Flashback
Einwanderer in Kalifornien Ende der sechziger Jahre hatte er als Übersetzer und Buchhalter so viel Geld verdient, dass er in seine Heimat zurückkehren, heiraten und einen Professorentitel an der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko-Stadt erwerben konnte. Danach lehrte er dort und am Instituto Politécnico Nacional jahrelang spanische Literatur, bis ungefähr zur Zeit seiner Pensionierung zwei seiner Söhne und drei seiner Enkel bei Kämpfen zwischen Drogenkartellen und der mexikanischen Bundespolizei ums Leben kamen.
Als diese Kämpfe das Ausmaß eines echten Bürgerkriegs erreichten, strömten in einem Zeitraum von sieben Monaten dreiundzwanzig Millionen Mexikaner nach Norden in die Vereinigten Staaten. Fünf Söhne und acht Enkel Emilios schlossen sich dieser Welle als Führer der beginnenden Reconquista an, aus der später das vom alten, kartellbeherrschten Mexiko getrennte Nuevo Mexico hervorgehen sollte. So zog der emeritierte Professor Emilio Gabriel Fernández y Figueroa mit seinen Söhnen, Enkeln, Urenkeln und den meisten seiner Enkelinnen samt Familien zurück in die Überrreste der USA, wo er den Grundstein für seine Ausbildung gelegt und die er so oft als angesehener Akademiker besucht hatte.
Leonard hatte Professor Fernández y Figueroa im September 2001 bei einer renommierten Literaturtagung in Yale kennengelernt. Beide Wissenschaftler traten bei der Tagung als Experten für den kolumbianischen Romancier Gabriel Garcia Márquez, den argentinischen Fabulierer Jorge Luis Borges, den chilenischen Dichter Pablo Neruda und den kubanischen Romancier Alejo Carpentier
auf. Nach kaum einer Stunde Podiumsdiskussion musste Professor George Leonard Fox an all diesen Autorenfronten den Rückzug antreten und sich dem überlegenen Wissen von Professor Emilio Gabriel Fernández y Figueroa geschlagen geben.
Am dritten Tag der Tagung krachten von Al-Qaida-Dschihadisten entführte Flugzeuge in das World Trade Center in New York, das Pentagon und auf ein Feld in Pennsylvania. Der anschließende private Gedankenaustausch zwischen Leonard und Emilio legte den Grundstein für eine Freundschaft, die auch noch nach über drei Jahrzehnten hier in Los Angeles Bestand hatte.
Leonard seufzte. »Mein Roman steckt fest, Emilio. Meine Idee war, dass es ein Überblick über die letzten vierzig Jahre wird, so wie Krieg und Frieden , aber ich komme nicht über den September 2008 hinaus. Diese erste Finanzkrise ist mir immer noch ein Rätsel.«
Lächelnd atmete Emilio Rauch aus und machte einen aggressiven Zug mit seinem Läufer. »Vielleicht solltest du dir nicht Tolstoi zum Vorbild nehmen, Leonard, sondern Proust.«
Leonard schob einen Bauern ein Feld nach vorn, um die Angriffslinie des Läufers zu blockieren. Der Bauer war durch seinen Springer geschützt.
Nach seinen vorsichtigen Anfangszügen rückte Emilio meistens forsch mit Läufern und Türmen vor und vernachlässigte dabei fast immer seine anderen Figuren. Leonard legte Wert auf die Springer und eine solide Verteidigung.
»Nein, Emilio, selbst wenn ich eine magische Madeleine hätte, wäre es nicht besonders erhellend, wenn ich meinen Lebensbericht mit den Ereignissen des letzten Jahrzehnts verweben würde. Ich war nicht auf diesem Planeten. Ich war an der Universität.«
Natürlich war Leonard auch innerhalb seiner Sphäre eine Wende aufgefallen. In den neunziger Jahren unterrichtete er Englisch und Altphilologie an der University of Colorado in Boulder, als die Universität einen Pseudowissenschaftler und Pseudo-Ureinwohner
namens Ward Churchill zum Leiter für den neu geschaffenen Fachbereich Ethnische Studien ernannte. Diese Entscheidung war die Kapitulation vor der absoluten politischen Korrektheit – ein Begriff, der bereits untrennbar mit dem Universitätsleben verbunden war – und der fanatischen Mittelmäßigkeit. Nach seiner Rückkehr von der Tagung im September 2001 erfuhr Leonard, dass Ward Churchill die Opfer im World Trade Center und im Pentagon in einem Aufsatz mit »kleinen Eichmanns« verglichen hatte. Leonard überraschte das nicht. Seine wenigen noch verbliebenen Englisch- und Altphilologiestudenten drückten sich fast verlegen an die Wände der Universität, während Churchills tätowierte und vielfach gepiercte Anhänger stolz durch die Gänge schritten.
»Nein«, sinnierte Leonard, »ich habe nicht einmal ein Proust’-sches Schattenleben, über das ich schreiben könnte. Ich wollte die Ära, die wir beide miterlebt haben, so
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