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Flashback

Titel: Flashback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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breit und brillant dokumentieren wie Tolstoi seine Zeit. Das Dumme ist bloß, dass ich einfach nichts begreife … weder Krieg noch Frieden, Finanzmärkte, Wirtschaft, Politik. Gar nichts.«
    Glucksend schob Emilio einen Turm fünf Felder nach vorn, um seine beiden Läufer bei einem versuchten Zangenangriff zu unterstützen. »Tolstoi hat einmal gesagt, dass Krieg und Frieden gar kein Roman sein sollte.«
    Leonard brachte seinen zweiten Springer ins Spiel. »Darin bin ich Tolstoi gewachsen. Mein wirres Gestammel ist auch kein Roman. «
    Geschützt von einem Turm schlug Emilios Läufer einen von Leonards Bauern. »Schach.«
    Ruhig zog Leonard mit dem Springer, um den König abzuschirmen und gleichzeitig den Läufer zu bedrohen.
    »Lass doch den Roman einfach weg und schreib das Gegenstück von Tolstois Nachwort zu Krieg und Frieden. « Emilio hielt inne. »Du weißt schon: dass die historischen Kräfte die menschliche
Vernunft übersteigen, dass durch das Bewusstsein in uns die Illusion von Freiheit und freiem Willen entsteht, dass die Geschichte ihre wahren Gesetze finden muss, da der freie Wille eine Illusion ist, dass sogar die Persönlichkeit von Zeit, Raum, Emotion und Kausalität abhängt.«
    »Dann wäre es aber kein Roman.« Leonard beobachtete, wie Emilio seinen anderen Läufer ins Getümmel warf. »Sondern eine Abhandlung.«
    »Romane liest doch sowieso niemand mehr, Leonard.«
    »Ich weiß.« Leonard schlug Emilios schützenden Turm mit seinem Läufer. »Schach.«
    Emilio runzelte die Stirn. Für eine Rochade war es jetzt natürlich zu spät, und im Eifer des Gefechts hatte er den König zu wenig gedeckt. Um diesen Mangel auszugleichen, holte er den Läufer zurück in eine verteidigende Position.
    Leonard schlug diesen Läufer mit seinem. »Schach.«
    Knurrend griff Emilio nach seinem bis dahin apathischen Springer, um Leonards Läufer aus dem Weg zu räumen. Leonard hatte den Tausch gesucht, weil Emilio sich grundsätzlich mehr auf die Läufer stützte. Dann lösten sich die Angriffs- und Verteidigungsstellungen in einem Chaos seltsam postierter Figuren auf. Ihre anfangs immer formellen Partien glitten gegen Ende meist in ein amateurhaftes Spiel ab.
    »Zumindest ist es eine Ära für Abhandlungen«, bemerkte der emeritierte Professor Emilio Gabriel Fernández y Figueroa.
    »Eine Ära des Zeitstils«, erwiderte Leonard scharf.
    Emilio kannte den Kontext dieses Ausdrucks, über den sie schon öfter diskutiert hatten. Der deutsche Autor Ernst Jünger hatte ihn in seinen während Hitlers Herrschaft entstandenen Kaukasischen Aufzeichnungen verwendet. Leonard stand dem Jünger jener Zeit kritisch gegenüber, weil dieser sich damit begnügt hatte, sich heimlich über Hitler lustig zu machen, statt der Tyrannei offen entgegenzutreten.
Mit dem Wort Zeitstil beschrieb Jünger die Euphemismen und die Doppelzüngigkeit, mit denen die Mächtigen die von ihnen usurpierte Sprache zerstörten. Jünger hatte diesen Prozess in den dreißiger und vierziger Jahren in Deutschland beobachtet; Leonard hatte ihn in Amerika miterlebt. Keiner von beiden hatte dagegen angekämpft.
    »LTI«, flüsterte Emilio verschwörerisch. Das Kürzel stand für Lingua tertii imperii , Victor Klemperers Codebegriff für die Sprache des Dritten Reichs. »Sie hat uns immer begleitet.«
    Leonard schüttelte den Kopf. Seine Springer rückten jetzt gegen Emilios zersprengte Verteidigung vor. »Nicht immer. Nicht auf diese Weise.«
    »Dein neues Krieg und Frieden würde also weder Krieg noch Frieden behandeln. Nur die Konfusion unserer Ära und ihrer Sprache. «
    »Ja.« Leonards Läufer schoss über das Brett, um Emilios verteidigenden Turm zu schlagen.
    » Solitudinem faciunt, pacem appellant «, bemerkte Emilio.
    »Richtig.« Zum ersten Mal hatte Leonard dieses Zitat von Tacitus als Studienanfänger gehört, und die vier Worte hatten ihn getroffen wie ein Schlag ins Gesicht. Sie schaffen eine Wüste und nennen es Frieden. »Schach. Schachmatt.«
    »Ach ja, sehr schön, sehr schön.« Emilio drückte seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Mit verschränkten Armen lehnte er sich zurück. »Du hast doch was auf dem Herzen, mein Freund. Machst du dir Sorgen um deinen Enkel?«
    Leonard atmete mehrmals langsam ein und fing an, die Figuren für die nächste Partie aufzustellen. »Ja. Val war die ganze Woche nicht in der Schule, das weiß ich wegen der automatischen Anrufe von der Highschool. In den frühen Morgenstunden kommt er nach Hause,

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