Flashback
Jahre jüngere Nubia, die ihn verlassen hatte. Sie hasste ihn inzwischen wie die Pest.
Er schüttelte den Kopf. Für ihn verlor sich das alles schon im Nebel der Erinnerung. Manchmal fragte er sich, ob das bei ihm nicht frühe Anzeichen von Alzheimer waren. Allerdings wären die Anzeichen bei einem Alter von vierundsiebzig auch nicht so besonders früh.
Val war in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen. Schließlich war er aufgetaucht, als Leonard gerade ein spätes Frühstück beendete. Seine einzige Reaktion auf das »Guten Morgen« seines Großvaters war ein gereiztes Knurren gewesen. Dann hatte sich Val sofort ins Bett gelegt und den größten Teil des Sonntags verschlafen.
Was auch immer in dem Leben des Sechzehnjährigen passierte, er würde es weder seinem Großvater noch einem anderen Erwachsenen anvertrauen, das war Leonard klar. Er hasste dieses Verhalten bei seinem Enkel. Die störrische, schmollende, aufsässige, unkommunikative Teenagerpose war ein unendlich ermüdendes Klischee. Wenn Leonard an dem einzigen Kind seiner Tochter nicht auch eine andere Seite wahrgenommen hätte – die Sensibilität, die Val so krampfhaft vor seinen Freunden verbarg, seine Lesebegeisterung, seine Hemmungen (zumindest als er noch klein war), anderen Menschen wehzutun –, dann hätte er den Jungen wohl schon längst zurück zu seinem Vater geschickt.
Vals Vater. Mehrere Male in den letzten Wochen hatte Leonard knapp davor gestanden, Nick Bottom anzurufen. Doch er hatte es
jedes Mal aufgeschoben. Der erste Grund dafür war natürlich, dass überrregionale Gespräche nach Jahrzehnten des billigen Sofortkontakts mit allen Winkeln der Erde wieder so schwierig und teuer geworden waren. Aus seiner Kindheit erinnerte sich Leonard noch, wie seine Mutter seinen Vater mahnte: »Es ist ein Ferngespräch.« Als ginge es darum, für ein Telefonat zum Mond zu zahlen.
Die anderen Gründe für Leonards Zaudern waren weniger greifbar: Zum einen hatte sich Nick Bottom in den letzten fünf Jahren immer weniger für seinen Sohn interessiert, zum anderen war Nick mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch schwer flashbackabhängig, was für Leonard der klinischen Beschreibung eines bösartigen Narzissten entsprach.
Doch, so notierte Leonard in sein Tagebuch, während sich über dem Becken von Los Angeles die Gewitterwolken zusammenballten, es war klar, dass er etwas tun musste.
Er hielt inne und streckte die schmerzende rechte Hand. Das Schreiben mit der Hand war für seine Arthritis schlimmer als das Tippen auf der virtuellen Tastatur. Und jetzt hatte er sich selbst bei einem Klischee ertappt. Gewitterwolken, die sich zusammenballten! Dafür hätte er Sonjas scharfe schwedische Zunge zu spüren bekommen.
Aber da am Himmel von Los Angeles inzwischen jeden Tag schwere Rauchwolken hingen – erst in den Reconquistavierteln im Osten, dann in den asiatischen Abschnitten weiter südlich und westlich und rund um die Universität, gestern in den von Mauern umgebenen und bewachten Enklaven der Reichen im Westen und an den Hügeln Richtung Mulholland Drive –, sah es tatsächlich so aus, als würden sich die Gewitterwolken immer schwärzer und dichter zusammenballen.
Leonard setzte seinen Tagebucheintrag fort. Er hatte beschlossen, noch vor dem nächsten Wochenende die Adresse aufzusuchen, die ihm Emilio gegeben hatte – keine Telefonnummer, keine
E-Mail, nur eine Adresse –, falls Val sich weiter so unberechenbar benahm und das Gefühl eines drohenden Armageddon in der Stadt weiter zunahm. So riskant und teuer es auch war, sich als Passagier einem Lastwagenkonvoi nach Denver anzuschließen, allmählich schien ihm das vernünftiger, als in Los Angeles zu bleiben.
MONTAG
Am Morgen nahm Leonard voller Erleichterung zur Kenntnis, dass Val zur Schule ging. Später wählte er den automatischen Kontrollanschluss des Stadtteils und erhielt die Bestätigung, dass sein Enkel tatsächlich dort aufgetaucht war.
Er versuchte, mit Val zu reden, während der Junge hastig eine Flasche UltraCoke kippte und einen Energieriegel hinunterschlang. Doch Val antwortete nur: »Wenn du dir so große Sorgen machst, wo ich meine Zeit verbringe, hättest du mir einen Kidfinder implantieren lassen sollen.«
Wäre Val sein eigener Sohn gewesen, hätte Leonard das auch getan. Aber er war aus Denver zu ihm gekommen, als er schon fast elf Jahre alt war – schockiert und traurig über den plötzlichen Tod seiner Mutter und die beginnende Drogensucht seines Vaters
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