Flashback
Staaten von Amerika im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts ihre neue und bescheidenere Rolle als »eine Nation unter vielen« definierten. Als Intellektueller verabscheute Professor George Leonard Fox alles, was auch nur entfernt an vulgären Patriotismus erinnerte. Trotzdem: hatte Amerika – jenseits des oft beklagten Rassismus, Sexismus, Imperialismus und schrankenlosen Kapitalsmus – nicht etwas durchaus Einzigartiges gehabt?
Als im Verlauf der zweiten Dekade des Jahrhunderts viele Menschen durch Bankrott, politisches Versagen und Kompromisse mit rücksichtslosen Aggressoren in den Ruin getrieben wurden, fragte sich Leonard allmählich, ob die frühere herausgehobene Stellung der Vereinigten Staaten nicht doch ihre Vorteile besessen hatte.
»Wahrscheinlich hätte ich nichts anderes erwarten dürfen von jemandem, der in den Scheißfünfzigern geboren wurde«, hatte ihn Nubia angeblafft, kurz bevor sie ihn verließ. »Du wirst immer in
den Fünfzigern leben, zusammen mit Senator George McCarthy und dem Komitee für unamerikanische Umtriebe.«
Er hatte sie nicht korrigiert wegen McCarthys Vornamen. Nubia war einundzwanzig Jahre jünger gewesen als er. Und wunderschön. Er vermisste sie bis auf den heutigen Tag.
Dennoch fand er ihre Anschuldigung unfair. Er hatte ihr mehr als einmal erklärt, dass er sich nicht an die Kommunistenjagd Anfang der fünfziger Jahre erinnern konnte, weil er erst 1958 zur Welt gekommen war. Nicht einmal über die Love-Peace-Drugs-Rock-Zeit der Sechziger konnte er ihr viel erzählen, weil er erst zwölf war, als dieses Jahrzehnt endete.
Er musste zugeben, dass die Welt seiner Kindheit geordneter gewesen war. Normaler. Sicherer. Sogar sauberer, wenn er darüber nachdachte.
Aber, so hatte er argumentiert wie alle anderen liberalen Demokraten und Intellektuellen zu der Zeit, als er Nubia heiratete (er war gerade fünfzig geworden und Leiter des Fachbereichs Englische Literatur, seine hinreißende Braut war knapp unter dreißig und auf dem Weg nach oben), Obama hätte es nicht so schwer gehabt, wenn ihm die Rechten nicht eine marode Wirtschaft und eine überall scheiternde Außenpolitik hinterlassen hätten. (Allerdings konnte er sich aus den letzten beiden Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich nicht an einen Zusammenbruch der Ökonomie oder eine desaströse Außenpolitik erinnern.)
Irgendwann im Jahr 2011 oder 2012, bevor Nubia ihn verließ und lange bevor er nach Kalifornien zog, um an der Universität von Los Angeles zu unterrichten, hatte Leonard mehrere Ökonomieprofessoren gefragt, was eigentlich hinter der endlosen Rezession und der anhaltenden Finanz-, Immobilien- und allgemeinen Krise steckte. Leonard hatte sich nie für Wirtschaft interessiert und sie nie als echte Fachdisziplin oder gar Wissenschaft betrachtet. Aber an wen hätte er sich in solchen Zeiten wenden sollen?
Fünf oder sechs führende Ökonomen im Kollegium erklärten ihm die damals erst beginnenden Verwerfungen in hermetischen – aber hoffnungsfrohen – Begriffen. Leonard hörte ihnen aufmerksam zu und konnte ihnen bis zu einem gewissen Grad folgen. Trotzdem fand er diese Ausführungen nicht überzeugend.
Zufällig traf Leonard bei der Party eines Kollegen in den Hügeln über Boulder auf einen alten, pensionierten Ökonomieprofessor, der auf Leonards Frage hin ein kleines Notebook aus der Aktentasche nahm – damals waren Telefone und Computer noch getrennt.
Der runzlige alte Dozent, der nach reichlichem Scotchgenuss schon ordentlich einen in der Krone hatte, rief eine Tabelle auf und zeigte sie Leonard. Später schickte er sie ihm per E-Mail, und Leonard hatte noch immer irgendwo einen Ausdruck davon.
Die Tabelle präsentierte ein 2010 beginnendes Szenario mit einem anhaltenden Schuldenanstieg von 8 Prozent. Die Schulden wurden auf der Basis von unterschiedlichen Wachstumsannahmen – die von -1 Prozent bis zu gesunden (aber nie realisierten) +4 Prozent reichten – als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts ausgewiesen.
Bei diesen nie realisierten 4 Prozent Wachstum hätte die Staatsverschuldung 2015 die Höhe des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Aber natürlich hatte sich die Wirtschaft nicht so gut entwickelt, so dass das Verhältnis von Schulden und BIP zu diesem Zeitpunkt schon fast bei 1,2 zu 1 lag.
Das Szenario des alten Ökonomen zeigte, dass das Verhältnis Schulden zu BIP im Jahr 2035 selbst bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 4 Prozent bereits 2,2 zu 1
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