Flatline
die Fäden zusammenhielt. Fast schien es Karin, als hätte er den Kampf um seinen Freund Jack innerlich aufgegeben.
Schorndorf rief an. Er beauftragte Daniel mit der Leitung der SoKo. Gamerschlag musste früher gehen. Seine Tochter hatte die Masern, seine Frau gab Unterricht an der Volkshochschule. Daniel verließ das Büro, um sich vorab in die Ermittlungsprotokolle einzulesen.
»Gibts eigentlich was Neues über Jack?«
Karin sah ihren Kollegen besorgt an. Sie dachte an sein Gespräch mit Doktor Mwandala, schloss ihre Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Maximal zwei Tage blieben noch. Das war es also, dachte sie. Joshua hatte panische Angst, wertvolle Zeit zu verlieren. Stumm schüttelte er den Kopf.
»Wir sollten Fahnenbrucks letzte Tage rekonstruieren. Falls Stachinsky recht hat, gibt es Hintermänner.«
Joshua nickte. Seine Augen fixierten keinen festen Punkt. Mühsam tastete er nach umherschwirrenden Gedanken, erreichte immer nur deren Ende. Fahnenbruck, der Name tanzte durch sein Bewusstsein wie Seifenblasen in leichtem Sommerwind. Ein Schlüssel ohne Schloss.
»Was wollte Fahnenbruck in der Intensivstation?«
Karins Frage stellte seine Aufmerksamkeit wieder her. Joshua nahm sich vor, diesem Punkt im Anschluss an das Treffen der SoKo nachzugehen.
38
Mit zitternden Fingern schaltete er das Elektronenmikros-kop aus. Wie in Trance nahm er hinter dem Schreibtisch Platz. Ein Tropfen von der Größe einer Perle löste sich vom Gesicht und zerplatzte auf der Plastikhülle des Namensschildes. »Dr. Mwandala« schimmerte verzerrt hindurch. Er dachte zurück an die Zeit in seiner Heimat. An Südafrika, das sie damals verlassen hatten, weil er nicht wollte, dass Angst der ständige Begleiter seiner Kinder würde. Sie sollten den Geschmack der Freiheit mit jedem Atemzug spüren, der über ihre Lippen strich. Es sollte ihnen nicht so ergehen wie ihrem Onkel, der sterben musste, weil der Arzt sich weigerte, mitten in der Nacht einen Schwarzen zu behandeln. Seinen Kindern sollten die Albträume erspart bleiben, die den Vater seit der Kindheit quälten. Wieder kamen diese Bilder hoch. Die letzte Erinnerung an seinen Vater.
Die Weißen waren von einem Jeep gesprungen, hatten den schreienden Mann ergriffen, den er immer so bewundert hatte, und ihn in ein Gebüsch am Dorfrand gezerrt. Wie gebannt hatte die Familie auf dem Dorfplatz gestanden, einige Gewehre drohend auf sie gerichtet. Flehende Schreie seines Vaters verstummten in einem Gewitter aus Kugeln. Viele Jahre später erzählte ihm seine Mutter unter Tränen, was damals passiert war. Die Familie hatte seit Wochen gehungert, sein Vater von der Farm des weißen Nachbarn eine Ziege gestohlen. Der zehnjährige Junge des Farmers hatte ihn verraten. Es war die Zeit, in der die Welt angstvoll auf Korea blickte, während sein Land unter einem löchrigen Teppich verborgen lag, notdürftig geflickt mit wenigen Fetzen Demokratie.
Die frostige Stimme des Anrufers dröhnte ihm immer noch in den Ohren, durchdrungen von den verzweifelten Rufen seiner Tochter. Kenyetta, in der Sprache seiner Heimat bedeutete es ›die Unschuldige‹.
Vor einer Stunde hatte er den Umschlag mit der Flasche unter Bananenschalen und leeren Getränkedosen aus dem Abfalleimer an der Bushaltestelle gezogen. Als Mwandala die Flüssigkeit untersucht hatte, stockte ihm der Atem. Es war ein Cocktail des Todes, den er den Blutreserven beimischen sollte. Durch einen Schleier aus Tränen hafteten seine Blicke auf dem Foto. Es war vor drei Monaten aufgenommen worden. Kenyetta saß auf der Schaukel im Garten. Sie lachte so vergnügt, dass ihre Wangen die Form kleiner Kiwis annahmen. Kein Tag ihres Lebens war ohne Lachen vergangen. Im Kindergarten steckte sie alle mit ihrer Fröhlichkeit an. Das Foto glitt ihm aus den Fingern, er sah die kleine Madeleine vor sich, der er heute Morgen das lebensnotwendige Spenderblut gegeben hatte. Sie und viele andere würden ihr Leben verlieren, wenn er seine kleine Kenyetta retten wollte. Das konnte er nicht.
Sollten Sie die Polizei einschalten, können Sie die Beerdigung Ihrer Tochter planen.
Vor wenigen Minuten hatte Ebele angerufen. Er hatte nicht den Mut aufgebracht, seiner Frau die Wahrheit zu sagen. Er sagte mit zittriger Stimme, sie sei bei ihm. Er habe ihrer Tochter versprochen, ihr die Klinik zu zeigen. Am Abend wollte der Entführer sich erneut melden. Mwandala beschloss zu behaupten, er habe die Forderungen
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