Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Crispin. Und arme Alberta Moon. Bestimmt ist sie jetzt am Boden zerstört.«
»Alberta Moon? Die Musiklehrerin von St. Agatha?«
Ich hatte Miss Moon einmal bei einem Dorfkonzert eine Schubert-Sonate spielen hören und muss sagen, dass sie Feely nicht das Wasser reichen konnte.
Der Vikar nickte immer noch kummervoll, als Wachtmeister Linnet wieder in der Tür erschien.
»Nach unten«, kommandierte er und zeigte mit dem Daumen zum Boden wie ein römischer Kaiser, der einem besiegten Gladiator mitteilt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat. »Inspektor Hewitt will Sie sprechen. In der Krypta.«
Der Inspektor stand sinnend da, das Kinn in die Hand gestützt und den Zeigefinger an die Wange gelegt. Im Halbdunkel der Gruft sah er dem Schauspieler John Mills zum Verwechseln ähnlich, fand ich, aber das hätte ich natürlich niemals laut gesagt.
Die grausigen Überreste von Mr. Collicutt wurden alle paar Sekunden von Sergeant Woolmers gleißendem Blitzlicht ausgeleuchtet.
»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte der Inspektor wissen. Eine durchaus sinnvolle Eröffnungsfrage.
»Äh … unsere Flavia hier.« Der Vikar legte mir schützend die Hand auf die Schulter. »Beziehungsweise Miss de Luce.«
»Hätte ich mir denken können«, entgegnete der Inspektor.
Dann geschah ein Wunder. Während der Vikar einen beklommenen Blick auf das warf, was von Mr. Collicutt übrig war, schloss der Inspektor das rechte Auge und klappte es wieder auf. Nur ich bekam etwas davon mit.
Er hatte mir zugezwinkert! Inspektor Hewitt hatte mir zugezwinkert!
Irgendwo läuteten Kirchenglocken. Irgendwo wurden Kanonen abgefeuert. Irgendwo explodierte ein Feuerwerk am nachtschwarzen Himmel.
Aber das hörte ich alles gar nicht, so laut rauschte das Blut in meinen Ohren.
Inspektor Hewitt hatte mir tatsächlich zugezwinkert!
Oder …
Jetzt rieb er sich das Auge, zog das Unterlid herunter und betrachtete etwas auf seiner Fingerspitze – ein Sandkörnchen?
So ein Mist!
Er hatte einfach nur ein Körnchen Gruftstaub im Auge gehabt oder einen Krümel eines verblichenen Dorfbewohners – womöglich gar einen Brösel eines meiner eigenen Vorfahren.
Ich nickte ihm mit sachlicher Anteilnahme zu und hielt ihm mein Taschentuch hin.
»Danke«, sagte er. »Ich hab selber eins.«
Dann fuhr er fort, als sei nichts geschehen: »Schildere mir doch bitte von Anfang an, was hier passiert ist – seit du heute Morgen hier angekommen bist.«
Ich ließ mich kein zweites Mal bitten und berichtete ihm von dem Lieferwagen vor der Kirche, von dem Vikar und Marmaduke Parr, von Mr. Haskins im Turm, von George Battle, Norman, Tommy und dem vierten Arbeiter in der Krypta. Ich beschrieb, wie der Stein herausgehebelt wurde und wie ich durch die Öffnung in der Wand gespäht hatte. Lediglich die Truhe in der Glockenstube, an der sich Mr. Haskins zu schaffen gemacht hatte, ließ ich aus.
Schließlich musste ich dem armen Mann wenigstens ein paar Kleinigkeiten übrig lassen, die er selbst aufklären konnte.
»Danke«, sagte der Inspektor, als ich fertig war. »Wenn noch etwas sein sollte, schicke ich jemanden raus nach Buckshaw.«
Noch vor wenigen Monaten wäre ich bei einer derart schroffen Abfuhr empört davongestapft. Inzwischen hatte sich jedoch einiges geändert. So hatte ich, wenn auch nur flüchtig, die Bekanntschaft von Antigone, der Frau des Inspektors, gemacht, und wusste von ihrer kleinen privaten Tragödie.
»Alles klar«, erwiderte ich. »Tschüss dann!«
Damit traf ich den richtigen Ton, fand ich.
Gladys wartete draußen im Unkraut und begrüßte mich mit erfreutem Quietschen, als ich ihren Lenker packte und das Vorderrad in Richtung Straße drehte.
Kurz darauf sausten wir durch die aufspritzenden Pfützen nach Hause. Wir waren immer noch nicht allzu spät dran zum Frühstück. Ich pfiff schallend »Land of Hope and Glory«, und Gladys schepperte mit ihrer Kette vergnügt den Takt dazu.
5
E rst als ich schon fast zu Hause war – genauer gesagt, als ich bereits an den steinernen Greifen vorbeiflitzte, die das Mulford-Tor bewachten –, ging mir auf, dass ich zwei wichtige Fragen übersehen hatte. Erstens: Wie war die Fledermaus eigentlich in die Kirche gelangt? Und zweitens: Wenn die Gruft durch Mr. Collicutt besetzt war, wo in aller Welt waren dann die Gebeine des heiligen Tankred abge-blieben?
Als Buckshaw am Ende der langen Kastanienallee auftauchte, merkte ich erschrocken, dass ich klitschnass war. Der Morgennebel hatte sich langsam
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