Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
nicht im Blut.
Schon wieder dieses Wort: Blut . Es war überall, so kam es mir vor. Es rann vom abgeschlagenen Haupt Johannes des Täufers, tropfte von St. Tankreds geschnitztem Antlitz, tränkte mein Zopfband, glibberte in all seiner roten wundersamen Pracht auf den Objektträgern unter meinem Mikroskop …
Überall. Blut.
Es war dieser ganz besondere Saft, der uns zusammenhielt – Daffy, Feely, Vater und mich.
In diesem Augenblick spürte ich mit unerschütterlicher Gewissheit, dass wir vier eins waren. Den albernen Ammenmärchen zum Trotz, mit denen mich meine Schwestern gequält hatten, sagte mir die Stimme meines Blutes unüberhörbar, dass wir alle eins waren und dass nichts uns jemals trennen konnte.
Es war der glücklichste und zugleich traurigste Augenblick in meinem Leben.
Wir blieben eine halbe Ewigkeit so stehen, Daffy und ich, hielten uns umarmt und wollten uns nicht mehr loslassen, denn dann hätten wir einander anschauen müssen. Bei solchen Gelegenheiten sind Gesichter an der Schulter des Gegenübers am besten untergebracht.
Schließlich hörte ich mich unglaublicherweise sagen: »Ist ja gut«, und ich tätschelte Daffys Schulter.
Wir hätten laut loslachen können, aber das taten wir nicht. Stattdessen machte sich Daffy irgendwann schniefend los und ging zur Tür. Unsere Blicke begegneten sich nicht.
Alles war wieder beim Alten.
Als ich die Osttreppe hinunterging, war ich ganz durcheinander. Was passierte da mit mir?
Einerseits bewog mich irgendetwas dazu, Daffy zu folgen: nämlich das unbestimmte Bedürfnis, die Verbindung aufrechtzuerhalten, die wir soeben zueinander hergestellt hatten. Andererseits hätte ich sie am liebsten umgebracht.
Daffy war von meinen beiden Schwestern diejenige, vor der ich mich am meisten fürchtete. Das mochte daran liegen, dass sie so wenig redete. Meistens lag sie irgendwo mit einem Buch in der Ecke, was eigentlich ein hübscher und friedlicher Anblick war, aber sie war immer so zusammengerollt – wie eine Schlange.
Man wusste nie, wann sie zustoßen würde, und wenn sie dann den Mund aufmachte, spuckte sie Gift.
Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen und horchte in mich hinein.
Ich war hin- und hergerissen: zwischen einer bescheuerten Dankbarkeit, die mir die Brust ganz weit machte, und dem gewaltigen Druck unserer Lage, der mir die Luft abschnürte.
Würde ich eher platzen oder ersticken?
Halb benommen ging ich weiter treppab bis in die Eingangshalle und von dort aus, ohne mir dessen so richtig bewusst zu sein, in die Küche.
Mrs. Mullet hing bis zu den Ellbogen in der mit Töpfen vollgestellten Spüle.
»Was hast du denn, Liebes?« Sie trocknete sich die Hände ab. »Du machst ja ein Gesicht, als hättest du ’n Geist gesehen.«
Vielleicht hatte sie recht.
Vielleicht hatte ich ja den Geist unserer Familie gesehen, so wie diese Familie sein könnte, wenn wir alle nicht so wären, wie wir nun mal waren.
Ach, es war alles furchtbar kompliziert!
Mrs. Mullet tat etwas, das sie nicht mehr getan hatte, seit ich klein gewesen war. Sie kniete sich vor mich hin, legte mir beide Hände auf die Schultern und schaute mir tief in die Augen.
»Erzähl’s mir«, sagte sie sanft und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Erzähl’s der Mrs. M.«
Ich hätte der Aufforderung folgen können, tat es aber nicht.
»Ich glaube, es liegt daran, dass Feely bald heiratet und wegzieht«, sagte ich mit zitternder Unterlippe. »Sie wird mir fehlen.«
Wie kommt es bloß, überlegte ich beim Sprechen, dass wir am geschicktesten lügen, wenn es um unsere Gefühle geht?
Dieser Gedanke kam mir zum allerersten Mal. Er machte mir Angst. Was tun, wenn das eigene Hirn Fragen zutage bringt, auf die man selbst keine Antworten weiß? Fragen, die man nicht mal versteht?
»Sie wird uns allen fehlen, Liebes«, erwiderte Mrs. Mullet. »Und ihre wunderschöne Musik auch.«
Das war zu viel. Ich brach in Tränen aus.
Warum?
Schwer zu sagen. Teilweise lag es an dem Gedanken, dass Mrs. Mullet sowohl Ludwig van Beethoven als auch Johann Sebastian Bach vermissen würde, ebenso wie Franz Schubert, Domenico Scarlatti, Pietro Domenico Paradisi und hundert andere, die sich in Buckshaws Hallen herumgetrieben hatten, solange ich denken konnte.
Wie leer es hier sein würde. Wie verdammt und elendiglich leer.
Mrs. Mullet tupfte mir die Augen mit dem Schürzenzipfel.
»Ist ja gut, Liebes«, sagte sie, wie ich vorhin zu Daffy. »Ich hab ein paar Hörnchen im Ofen. So ein warmes Hörnchen
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