Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Titel: Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
Vom Netzwerk:
geworden waren.
    Ich dachte an die schaurigen und zugleich faszinierenden Gräuel, die sich zwischen den Buchdeckeln fanden: die Fallhand oder Handgelenkslähmung, die Blässe, die Blutarmut, die Kopfschmerzen, der faulige Geschmack im Mund, die Wadenkrämpfe, die Atemnot, das Erbrechen, der Durchfall, die Zuckungen, die Ohnmachtsanfälle. Hätten wir mittels eines Zaubers die Lippen von Ada Ridley-Smith auf dem alten Schwarz-Weiß-Foto zurückschieben können, so hätten wir dort, wo das Zahnfleisch an die Zähne grenzt, zumindest eine Spur des bläulichen Saums vorgefunden, der als typisches Symptom der Bleivergiftung gilt.
    Kein Wunder, dass die Frau depressiv war!
    »Mit Bleifarbe bemalte Bleifiguren«, sagte Dogger. »Soldaten, die zum Anschauen gedacht waren, nicht um damit zu spielen. Jedenfalls nicht in so großer Zahl.«
    »Aber Jocelyn …«
    Dogger schüttelte den Kopf. »Da war es schon zu spät. Er ist bereits vergiftet zur Welt gekommen.«
    Eine so entsetzliche Vorstellung, dass man sie kaum in Worte fassen konnte.
    »Das Gehirn eines Ungeborenen ist hochempfindlich«, fuhr Dogger fort. »Die meisten Schwangeren, die an Bleivergiftung leiden, haben eine Fehlgeburt. – Aber nicht immer«, setzte er hinzu. »Nicht immer.«
    »Erzähl mir mehr über das ›nicht immer‹«, sagte ich leise.
    »Kinder, die trotz der Bleivergiftung ihrer Mütter auf die Welt kommen, leben selten länger als zwei, drei Jahre. Die Chancen stehen weniger als drei zu hundert.«
    »Aber was kann man da tun? Wir können doch nicht zulassen, dass er so eingesperrt wird. Das geht doch nicht!«
    Dogger legte die Harken und Hacken weg. »Immerhin ist er am Leben, und das ist doch besser als nichts.«
    Er machte eine Pause und sprach dann so ruhig weiter, als staubte er gerade Möbel ab: »Es ist vielleicht nicht ideal, aber trotzdem ist es unter den gegebenen Umständen womöglich die beste Lösung. Die kleinste Einmischung könnte das Ganze wie ein Kartenhaus einstürzen lassen.«
    Auf einmal wollte ich nicht mehr darüber reden. Es war ganz merkwürdig. Vielleicht war ich übermüdet. Vater hatte uns schon mehr als einmal Vorträge zum Thema Überanstrengung gehalten, und vielleicht hatte er ja recht gehabt. Es war wirklich ein furchtbar anstrengender Tag gewesen.
    »Ich habe mir erlaubt, ein Nest für Esmeralda zu bauen«, wechselte Dogger rücksichtsvoll das Thema. »Außerdem habe ich sie mit bewährtem Futter versorgt.«
    Er deutete auf eine Kiste in der Ecke, in der Esmeralda auf einem Nest aus Stroh thronte. Sie war mir bis jetzt nicht mal aufgefallen.
    »Dogger«, sagte ich, »du bist ein Schatz!«
    Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Es rutschte mir einfach heraus. Es war mir sterbenspeinlich. Solche Sprüche lieferte sonst nur Feelys Freundin Sheila Foster.
    »Tut mir leid«, stotterte ich, »ich wollte nicht …«
    Dann ergriff ich die Flucht und ließ Dogger ruhig und friedlich in seiner Sauerstoffatmosphäre weiterarbeiten.
    Was geschah nur mit meiner Welt? Alles ging drunter und drü ber. Buckshaw sollte verkauft werden. Vater hatte mir offenbart, ich sei genau wie meine Mutter, und Jocelyn Ridley-Smith hatte das mehr oder weniger bestätigt. Daffy hatte mich umarmt. Der Vikar hatte an meinen Fähigkeiten gezweifelt. Ich hatte erfahren, dass ich höchstwahrscheinlich aus der Seitenlinie der Familie eines Heiligen stammte. Zu allem Überfluss hatte ich angefangen, die verhasste Cynthia zu mögen. Ich hatte mich vor Mrs. Mullet gehen lassen und war in Tränen ausgebrochen. Und jetzt hatte ich auch noch so herablassend mit Dogger gesprochen, als wäre ich ein Filmstar und er mein Laufbursche. Mein ganzes Universum veränderte sich, aber nicht unbedingt so, wie ich es gern gehabt hätte.
    Wenn wir doch nur in die gute alte Zeit von vor einer Woche hätten zurückkehren können, so unbehaglich uns auch zumute gewesen sein mochte, als wir alle noch in unseren alten, verstaubten Umlaufbahnen gekreist waren!
    Dabei war meine Schwester Feely »der einzige Fixpunkt in einer sich wandelnden Welt«, wie Sherlock Holmes einmal seinen Gefährten Dr. Watson genannt hatte. In den Wirren der vergangenen Tage war es nur Feely gelungen, so unerfreulich wie eh und je zu bleiben.
    Nahm das Gute womöglich wie der Mond zu und dann wieder ab, und nur das Böse blieb sich stets gleich? Wenn ich die Antwort darauf hätte, würde vielleicht auch alles andere wieder ins Lot kommen.
    In gewisser Hinsicht beschäftigte Inspektor Hewitt und

Weitere Kostenlose Bücher