Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
mich momentan die gleiche Frage, und in geringerem Maß dachten wohl auch Adam Sowerby und Miss Tanty darüber nach: War es denkbar, dass jemand mit einer sonst makellos sauberen Weste plötzlich aus seiner einwandfreien Lebensführung ausscherte und zum Mörder wurde? Oder war Mr. Collicutt einem Täter zum Opfer gefallen, der nicht zum ersten Mal getötet hatte?
Einem Profi sozusagen?
Sein Tod wollte mir einfach nicht zu einem klassischen Dorfmordfall passen. Zu einem solchen gehörten Eifersucht, Streit, Schläge, Erwürgen, Vergiften, vielleicht noch eine manipulierte Bettflasche … Stattdessen war Mr. Collicutt im Gehäuse einer Kirchenorgel brutal ermordet worden. Die Täter hatten seine Leiche aus der Kirche hinaus und über den Friedhof geschleift, ihn in ein offenes Grab geworfen und durch einen unterirdischen Gang gezerrt, bis sie den Leichnam schließlich in einer verborgenen Kammer über der Gruft eines vor Ewigkeiten verstorbenen Heiligen deponiert hatten.
Das ergab doch alles keinen Sinn.
Oder vielleicht doch?
Womöglich verbarg sich die Wahrheit in einem Stückchen Stoff.
In den weißen Spitzen, die unter der Gasmaske auf Mr. Collicutts Gesicht hervorgelugt hatten.
Ich warf mich aufs Bett, um meinen Augen ein wenig Ruhe zu gönnen.
Als ich sie wieder aufschlug, war es draußen dunkel geworden.
Langsam ging ich die Osttreppe hinunter und rieb mir nach einer unruhigen Nacht die Augen. Ich hatte von Buckshaw geträumt – unheilvolle Träume, in denen plötzlich überall Löcher aufgetaucht waren, als würde ein riesiger Maulwurf überall ums Haus und auf dem ganzen Anwesen herumbuddeln, unermüdlich und unaufhaltsam.
Als ich aufwachte, war es schon nach neun. Ich musste zu Vater und mich bei ihm entschuldigen, nicht nur, weil ich ges-tern das Abendessen (und davor das Mittagessen), sondern weil ich heute obendrein auch noch das Frühstück verpasst hatte.
Wie schon erwähnt, legte Vater großen Wert auf Anwesenheit. Ausreden wurden nicht geduldet.
Ich bummelte durch den Flur, um die unausweichliche Auseinandersetzung so lange wie möglich hinauszuzögern.
Vor dem Salon blieb ich stehen und spitzte die Ohren. Wenn Vater nicht dort war, saß er schon in seinem Arbeitszimmer, und dort wollte ich ihn auf gar keinen Fall stören.
Dann war ich gewissermaßen aus dem Schneider.
Ich legte das Ohr an die Tür und vernahm leise Stimmen.
Obwohl ich die einzelnen Worte nicht verstand, spürte ich an den Vibrationen der Türfüllung, dass einer der Sprecher zweifelsfrei Feely war.
Ich kniete mich hin und wollte durchs Schlüsselloch spähen, aber leider steckte der Schlüssel.
Abermals drückte ich das Ohr fest gegen die Türfüllung, aber es hatte keinen Zweck. Hier konnte auch mein überfeines Gehör nichts ausrichten.
Die Lösung kam, wie geniale Lösungen das so an sich haben, in Gestalt eines Geistesblitzes.
Unterdrückt in mich hineinlachend, schlich ich mich wieder in die Eingangshalle und nach oben in mein Labor.
Aus einem Schränkchen unter einer der Spülen holte ich einen Schraubenzieher, ein Stück Gummischlauch und zwei Trichter, die normalerweise zum Befüllen von Flaschen dienten, jetzt aber eine weitaus spannendere Rolle spielen sollten.
Dann ging es wieder zurück: den Korridor im ersten Stock entlang, durch den unbewohnten Nordflügel und durch die mit grünem Filz bespannte Tür, die in den Familientrakt führte. Gleich gegenüber von Harriets Boudoir, das Vater wie einen weiteren Schrein zu ihrem Gedenken unverändert belassen hatte, lag Feelys Zimmer. Abgesehen von Harriets Boudoir war es das größte Schlafzimmer auf Buckshaw und auch das luxuriöseste.
Um sicherzugehen, dass die Luft rein war, klopfte ich mit dem Fingernagel an.
Falls Feely drinnen war, falls im Salon doch jemand anders gesprochen hatte, würde sie auf das leiseste Geräusch mit einem prompten, mürrischen »Was?« reagieren.
Feely legte von allen de Luces den größten Wert auf Privatsphäre und verteidigte ihr Revier so wehrhaft wie Gott sein Paradies.
Ich klopfte noch einmal.
Nichts.
Ich drehte den Türknauf, und – Wunder über Wunder – die Tür ging auf. Feely musste sehr in Eile gewesen sein, dass sie ihren Privatbereich derart ungeschützt zurückgelassen hatte.
Leise schloss ich die Tür hinter mir und ging auf Zehenspitzen durchs Zimmer. Ich befand mich direkt über dem Salon und wollte mich nicht durch meine Schritte verraten. An sich bestand dafür keine Gefahr, denn Buckshaw war so
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