Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
besänftigt einen enttäuschten Geist besser als Sauerstoff. Ein paar tiefe Atemzüge, und das gute alte »O« regeneriert jede Zelle im Körper. Ich hätte natürlich auch in mein Labor gehen und eine Nase von dem auf Flaschen gezogenen Stoff nehmen können, aber das wäre mir wie Betrug vorgekommen. Sauerstoff in seiner natürlichen Form ist einfach unübertroffen – Sauerstoff, der auf natürliche Weise in einem Wald oder einem Gewächshaus produziert wurde, dort, wo viele Pflanzen mittels Photosynthese das giftige Kohlendioxid, das wir ausatmen, absorbieren und uns im Gegenzug dafür Sauerstoff schenken.
Feely gegenüber hatte ich mal die Bemerkung fallen lassen, aufgrund des Sauerstoffs sei es beim Einatmen frischer Luft so, als atme man Gott, aber sie hatte mir eine runtergehauen und gesagt, das sei Gotteslästerei.
Das Gewächshaus auf Buckshaw hob meine Stimmung erfahrungsgemäß schlagartig. Dabei hätte ich nicht sagen können, wie viel von dieser Wirkung Doggers Anwesenheit und wie viel dem Sauerstoff zu verdanken war. Wahrscheinlich halbe-halbe. Eins steht jedoch fest: Ein Gewächshaus ist ein friedlicher Ort. Man hat noch nie davon gehört, dass jemand in einem Gewächshaus mit einer Axt erschlagen worden wäre.
Meine Theorie lautet: Es liegt am »O«.
Ich entdeckte Dogger zwischen den Blumentöpfen, wo er irgendwelches Gartenwerkzeug mit dicker Schnur zu Bündeln zusammenband.
»Du, Dogger«, begann ich ganz beiläufig und unterdrückte ein Gähnen, als ich mich über eine eingetopfte Primel beugte, um sie zu begutachten, »was würdest du sagen, wenn ich dich nach der Ursache für verkümmerte Daumenmuskeln und kraftlose Hände fragen würde?«
»Ich würde sagen, du bist auf Bogmore Hall gewesen, Miss Flavia.«
Eigentlich hätte ich baff sein müssen, aber ich wunderte mich kein bisschen.
»Hast du das Foto von Mrs. Ridley-Smith gesehen?«
»Nein, aber ich habe das Geschwätz des Personals mit angehört.«
»Und?«
»Schlimme Geschichte. Was ich mir daraus zusammenreimen konnte, ist ein klassischer Fall von Bleivergiftung. Die Beugemuskeln und, wenn auch in geringerem Ausmaß, die Streckmuskeln sind befallen. Aber das ist dir bestimmt selbst aufgefallen, oder?«
»Schon. Aber ich wollte, dass du es mir bestätigst.«
In dem sich anschließenden Schweigen überlegte jeder für sich, wie er mit dem, was unweigerlich folgen würde, umgehen sollte.
»Du weißt es schon lange«, sagte ich schließlich und gab mir Mühe, dass es nicht wie ein Vorwurf klang.
»Sehr lange«, erwiderte er, und Trauer schwang in seinem Tonfall mit. »Schon die ganze Zeit.«
Abermals entstand eine Pause, bis mir klar wurde, dass wir uns beide davor drückten, Harriet zu erwähnen.
»Sie hat ihn oft besucht, stimmt’s?«, fragte ich. »Jocelyn, meine ich.«
»Ja«, antwortete Dogger schlicht.
»Und du hast sie begleitet!«
»Nein, Flavia. Du weißt doch, dass ich damals noch gar nicht auf Buckshaw gewohnt habe.«
Wie dumm von mir! Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Dogger war erst nach Kriegsende nach Buckshaw gekommen. Genau wie ich musste er von jemand anderem von den Ridley-Smiths erfahren haben.
»Aber er ist ein Gefangener! Warum ist er eingesperrt?«
»Ist er wirklich eingesperrt …«
»Klar ist er eingesperrt!«, fiel ich ihm mit lauter Stimme ins Wort. »Hinter einer doppelten Tür!«
»… oder wird er geschützt?«
Jetzt sprach ich auf einmal ganz leise. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»So geht es einem oft. Man liest irgendwelche Geschichten in der Zeitung und zieht seine Schlüsse daraus. Die Tatsachen entsprechen oft gerade dem Gegenteil dieser Schlussfolgerungen.«
»Und dem Gegenteil der Schlagzeilen«, ergänzte ich, weil mir der Vikar eingefallen war.
»Richtig. Wie du sicher aus deinen Fachbüchern weißt, ist mit Bleivergiftung nicht zu spaßen.«
Allerdings. Ich hatte gelesen, wie es Frauen ergangen war, die bleihaltige Haarfärbemittel benutzt oder sich das Gesicht mit irgendeinem Quacksalberzeug eingepudert hatten, das Bleikarbonat enthielt: Cosmetique Infallible oder Ali Achmeds Wüstenschätze zum Beispiel.
Meine Gedanken flogen zu den dicken Wälzern in Onkel Tars Bibliothek, in denen ich zuerst auf das Thema gestoßen war: Christisons Abhandlung über die Gifte, Taylors Grundsätze und Methoden der Rechtsmedizin und Blyhts Gifte: Wirkungen und Nachweis, die, seit ich sie entdeckt hatte, zu meinem Alten und Neuen Testament und auch zu meinen Apokryphen
Weitere Kostenlose Bücher