Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag
zweihundertjährigen Geschichte des Findelhauses, dass jemand ein Baby zurückgebracht hat, weil es ihm nicht gefiel.
Harriet konnte dich auch nicht leiden, als du hier eingetroffen warst, aber der Vertrag war bereits unterschrieben und der Vorstand des Findelhauses hat sich geweigert, dich noch einmal zurückzunehmen. Nie werde ich den Tag vergessen, als
ich Harriet zu Vater sagen hörte, dass sie ein so abgrundtief hässliches, quäkendes Etwas niemals lieb haben könnte. Aber was sollte sie machen?
Tja, sie tat das, was jede normale Frau unter solchen Umständen tun würde: Sie flüchtete sich in eine tiefe seelische Störung, einen Zustand, von dem sie sich allem Anschein nach nie wieder richtig erholte. Sie war immer noch angegriffen, als sie in Tibet von diesem Berg stürzte … oder sprang sie in die Tiefe? Vater hat dich seit jeher dafür verantwortlich gemacht, aber das hast du bestimmt schon selbst gemerkt.«
Die Temperatur im Raum sank bis unter den Nullpunkt, und ich war plötzlich von Kopf bis Fuß wie taub. Ich wollte etwas erwidern, aber meine Zunge war wie ausgedörrt, hatte sich in ein verschrumpeltes Fensterleder verwandelt. Heiße Tränen stiegen in mir auf, und ich suchte schleunigst das Weite.
Das würde ich dem elenden Schwein Feely heimzahlen! Ich würde ihr auflauern und sie so raffiniert fesseln, dass man einen Seemann anheuern müsste, um sie zu ihrer Beerdigung wieder zu entknoten.
In Brasilien gibt es eine Baumart, Carica digitata, von den Eingeborenen Chamburu genannt. Die Menschen dort glauben, dass der Baum ein so starkes Gift absondert, dass man, wenn man nur darunter steht und einatmet, zunächst chronisch eiternde Geschwüre bekommt und früher oder später einen furchtbar qualvollen Tod erleidet.
Zu Feelys Glück gedieh dieser Baum nicht in England. Zu meinem Glück aber wuchs Hundspetersilie, besser bekannt als Giftiger Schierling, sehr wohl bei uns. Ja, ich kannte sogar eine sumpfige Senke in Seaton’s Meadow, keine zehn Minuten von Buckshaw entfernt, wo ich mir diese Pflanze jederzeit besorgen konnte. Ich konnte pünktlich zum Abendessen wieder zurück sein.
Erst neulich hatte ich meine Notizen zu Koniin, dem Wirkstoff dieser Pflanze, auf den neuesten Stand gebracht. Ich würde
ihn mithilfe irgendeines Alkaloids destillieren - vielleicht sollte ich ein wenig von dem Natriumbikarbonat nehmen, das ich als Gegenmittel zu Mrs Mullets kulinarischen Glanzleistungen stets in meinem Labor vorrätig habe. Anschließend würde ich das Ganze bis auf den Gefrierpunkt herunterkühlen und die bunt schillernden Schuppen des weniger wirkungsvollen Conhydrin durch Rekristallisation entfernen. Das verbliebene, nahezu reine Koniin hatte einen wunderbar unverdächtigen Geruch, und weniger als ein halber Tropfen der öligen Substanz reichte völlig aus, um alte Rechnungen zu begleichen.
Unruhe, Übelkeit, Zuckungen, Schaum vor dem Mund, grässliche Krämpfe - ich zählte unterwegs die Höhepunkte der Begleiterscheinungen an den Fingern ab.
Zyankali und Arsen -
Ein, zwei Prisen - hast du nicht gesehn -
Hinein in die Suppe!
Zünde die Kerzen an,
Ruf den Bestatter an -
Flavias Rache trifft jeden,
Der’s wagt, sich mit ihr anzulegen!
Mein Singsang wurde von der hohen bemalten Decke der Eingangshalle und dem dunklen, matt glänzenden Gebälk der Empore zurückgeworfen. Abgesehen davon, dass kein Schierling darin vorkam, beschrieb dieses kleine Gedicht, das irgendwann einmal zu einem völlig anderen Anlass entstanden war, hervorragend meine derzeitige Gefühlslage.
Ich eilte über die schwarzweißen Steinfliesen und dann die geschwungene Treppe zum Ostflügel des Hauses hinauf. Der »Tar-Flügel«, wie wir ihn nannten, war nach Tarquin de Luce benannt, einem von Harriets uralten Onkeln, der lange vor uns auf Buckshaw gewohnt hatte. Onkel Tar hatte den Großteil
seines Lebens zurückgezogen in einem prächtigen Chemielabor aus dem vergangenen Jahrhundert in der südöstlichen Ecke des Hauses verbracht und dort die »Krümel des Universums« untersucht, wie er sich einmal in einem seiner vielen Briefe an Sir James Jeans, den Verfasser von Dynamische Theorie der Gase, ausgedrückt hatte.
Gleich unter dem Labor, im Langen Flur, hängt ein Ölgemälde von Onkel Tar. Er blickt von seinem Mikroskop auf, mit zusammengekniffenen Lippen und gerunzelter Stirn, als wäre just in dem Augenblick, in dem er kurz davor stand, das deLucium zu entdecken, jemand mit Pinsel und Palette
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