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Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag

Titel: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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zu beiden Seiten der Tastatur an.
    Es war eine wahrhaft erstaunliche Vorführung! Das Publikum klatschte stürmisch. Ich glaube, jeder hatte begriffen, dass wir hier einen echten Meister seines Faches bei der Arbeit beobachteten.
    Der kleine Mozart setzte sich auf den spindelbeinigen Hocker, der vor dem Instrument stand, hob die Hände, als wollte er anfangen - und ließ vernehmlich die Knöchel knacken.
    Er erntete schallendes Gelächter. Rupert hatte anscheinend das Geräusch eines hölzernen Nussknackers von ganz nah aufgenommen. Es klang, als hätte die Puppe sich sämtliche Fingerknochen gebrochen.
    Dann fing Mozart an zu spielen. Seine Hände flogen über die Tasten wie das Schiffchen über einen Webstuhl. Es ertönte der Türkische Marsch, eine flotte, vorwärtsdrängende, lebhafte kleine Melodie, die mich zum Schmunzeln brachte.
    Ich erspare mir eine ausführliche Beschreibung der Einzelheiten - von dem zusammenkrachenden Klavierhocker bis zu den beiden Tastaturen, die wie Haifischzähne nach den Fingern der Puppe schnappten -, jedenfalls plumpsten wir Zuschauer vor Lachen fast von den Stühlen.
    Als es der kleinen Figur zum Schluss trotz aller Widrigkeiten doch noch gelungen war, sich zum allerletzten, triumphierenden Akkord durchzukämpfen, stellte sich das Cembalo auf die Hinterbeine, verbeugte sich und faltete sich säuberlich zu einem Koffer zusammen. Die Mozart-Puppe hob ihn sogleich an und marschierte mit ihm unter tosendem Beifall von der Bühne. Einige Zuschauer sprangen vor Begeisterung sogar auf.
    Dann ging das Licht abermals aus.

    In der kurzen Pause kehrte nach und nach wieder Stille ein.
    Als sich die Zuschauer beruhigt hatten, ertönte erneut Musik - aber eine ganz andere Musik.
    Ich erkannte die Melodie sofort. Es war die »Morgenstimmung« aus Edward Griegs Peer-Gynt-Suite, und sie erschien mir perfekt ausgewählt.
    Die Musik wurde leiser, eine Frauenstimme verkündete: »Willkommen im Märchenland«; dann ging ein Scheinwerfer an und beleuchtete eine überaus bemerkenswerte Figur.
    Sie saß auf der rechten Seite der Bühne, wo sie sich in der kurzen Pause niedergelassen haben musste, trug eine elisabethanische Spitzenhalskrause, ein schwarzes Kleid nach Art der Pilgerväter mit geschnürtem Mieder, schwarze Schuhe mit eckigen Silberschnallen und eine winzige Brille, die riskant auf ihrer Nasenspitze thronte. Ihr Haar bestand aus einem Wust grauer Locken, der unter einem hohen spitzen Hut hervorquoll.
    »Man nennt mich Mutter Gans.«
    Es war Nialla!
    Oooh und Aaah machte das Publikum, und Mutter Gans blickte geduldig lächelnd in die Runde, bis sich die Aufregung wieder gelegt hatte.
    »Soll ich euch eine Geschichte erzählen?«, fragte sie mit einer Stimme, die nicht Nialla zu gehören schien und zugleich unverkennbar ihre Stimme war.
    »Jaaa!«, riefen alle, auch der Vikar.
    »Nun gut. Ich will mit dem Anfang anfangen und dann fortfahren, bis ich am Ende angekommen bin. Und dann werde ich aufhören.«
    Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
    »Es war einmal … in einem Dorf nicht weit von hier …«
    Dabei öffnete sich der Samtvorhang mit den goldenen Troddeln gemächlich und gab den Blick auf das mir wohlbekannte heimelige Häuschen frei. Vom Zuschauerraum aus konnte ich
es noch genauer betrachten: die Sprossenfenster, die gemalten Stockrosen, den dreibeinigen Melkschemel.
    »… da lebte eine arme Witwe mit ihrem Sohn. Er hieß Jack.«
    Schon kam ein Junge in Lederhosen, mit bestickter Jacke und Wams, auf die Bühne geschlendert und pfiff schauderhaft falsch zur Musik.
    »Mutter«, rief er. »Bist du da? Ich hab Hunger!«
    Als er sich umdrehte, um sich umzusehen, legte er die Hand zum Schutz vor der aufgemalten Sonne über die Augen, und das Publikum rang einhellig nach Luft.
    Wir alle erkannten Jacks geschnitztes Gesicht wieder. Allem Anschein nach hatte Rupert den Puppenkopf absichtlich nach einem Foto von Robin, dem toten Sohn der Inglebys, geschnitzt. Die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich.
    Beklommenes Flüstern durchzog den Saal wie Wind den kalten Novemberwald.
    »Pssst!«, sagte schließlich jemand. Ich glaube, es war der Vikar.
    Wie er sich wohl dabei fühlen mochte, sich einem Kind gegenüber zu sehen, das er persönlich beerdigt hatte?
    »Jack war ein Faulpelz«, fuhr Mutter Gans fort. »Und weil er nicht arbeiten wollte, dauerte es nicht lange, bis das Wenige, was seine Mutter gespart hatte, restlos aufgebraucht war. Im ganzen Haus gab es nichts mehr zu essen,

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