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Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag

Titel: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - Bradley, A: Flavia de Luce - Mord ist kein Kinderspiel - The Weed that strings the Hangman's Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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morsche Galgen, unverkennbar. Meg fing am Rand an und arbeitete sich zur Blattmitte vor.
    Ab und zu gluckste sie, drehte den Stift um und radierte einen Strich wieder aus. Sie hatte Talent, das musste man ihr lassen. Ihre Skizze war wahrscheinlich besser als alles, was ich selber hingekriegt hätte.
    Dann zeichnete sie Robin.
    Ich schaute ihr mit angehaltenem Atem über die Schulter. Strich für Strich nahm der tote Junge vor meinen Augen Gestalt an.
    Er sah ganz friedlich aus, wie er da in der Luft hing, den Hals ein wenig abgeknickt, mit einem Ausdruck des sanften Erstaunens und der Zufriedenheit im Gesicht, als wäre er unerwartet in einen Raum voller Engel getreten. Trotz des Schummerlichts unter den Bäumen ging von seinem ordentlich gescheitelten Haar ein gesunder und darum einigermaßen verstörender Glanz aus. Er trug einen gestreiften Pullover und eine dunkle Hose, die Hosenbeine hatte er nachlässig in die
Gummistiefel gestopft. Sein Todeskampf kann nicht lange gedauert haben, dachte ich.
    Erst danach zeichnete Meg die Schlinge, die ihm die Luft abschnürte. Den Strick, an dem er im Leeren baumelte, schraffierte sie mit wütenden Bleistiftstrichen.
    Ich holte tief Luft. Meg blickte triumphierend und Anerkennung heischend zu mir auf.
    »Und jetzt den Teufel«, flüsterte ich. »Mal den Teufel, Meg.«
    Sie sah mir in die Augen, sonnte sich in meiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Ein verschmitztes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
    »Bitte, Meg - zeichne noch den Teufel.«
    Ohne mich aus den Augen zu lassen, leckte sie Daumen und Zeigefinger an und blätterte sorgfältig um. Dann zeichnete sie auf dem nächsten Blatt weiter. Abermals entstand der Gibbet Wood unter dem flinken Stift. Die zweite Zeichnung wurde dunkler als die erste, und Meg verwischte die Bleistiftstriche, verschmierte sie, um das Halbdunkel auf der Lichtung anzudeuten. Dann zeichnete sie den Galgen, aber diesmal aus einem etwas anderen Blickwinkel.
    Sonderbar, dachte ich. Die meisten Leute hätten den Teufel als Erstes gemalt. Aber erst nachdem Meg die Bühne zu ihrer Zufriedenheit mit Bäumen und Büschen ausgestattet hatte, strichelte sie die Figur, die den eigentlichen Mittelpunkt ihres Werkes darstellte.
    Auf einer annähernd ovalen Stelle, die sie freigelassen hatte, erkannte man nach und nach eine Gestalt: erst Oberarme und Schultern, dann Knie, Beine, Unterarme, Hände und Füße.
    Die Gestalt trug eine schwarze Jacke und stand mitten in der Lichtung auf einem Bein, wie in einem rasenden Tanz erstarrt.
    Die Hose hing an den Hosenträgern an einem niedrigen Ast.
    Als Meg die Gesichtszüge zeichnete, deckte sie das Blatt mit der linken Hand ab. Als sie fertig war, schob sie es mir abrupt hin, als wäre das Papier verunreinigt.

    Ich erkannte das Gesicht nicht sofort, begriff nicht gleich, dass die Gestalt auf der Lichtung - der Teufel - unser Vikar war. Denwyn Richardson.
    Der Vikar? Das war ja lächerlich! Oder?
    Erst erzählte mir Meg, der Teufel sei tot, und jetzt zeichnete sie ihn als unseren Vikar.
    Was ging bloß in ihrem verwirrten Kopf vor?
    »Bist du sicher, Meg?« Ich tippte mit dem Finger auf das Blatt. »Ist das der Teufel?«
    »Schsch!«, machte sie, neigte lauschend den Kopf und legte die Finger auf meine Lippen. »Da kommt wer!«
    Ich schaute mich auf der Lichtung um, die sogar für mein ausgeprägtes Gehör völlig still zu sein schien. Als ich mich wieder umdrehte, lagen Notizbuch und Bleistift vor meinen Füßen, Meg war verschwunden. Mir war klar, dass es nicht viel Zweck hatte, sie zurückzurufen.
    Ich blieb einige Sekunden reglos stehen, lauschte und wartete auf etwas, auch wenn ich nicht genau wusste, worauf.
    Dabei ging mir durch den Kopf, dass der Wald eine sich ständig verändernde Welt war. Von einem Augenblick zum nächsten wanderten die Schatten, von einer Stunde zur anderen wandten sich die Pflanzen der Sonne zu. Würmer und Käfer krochen durchs Erdreich, wühlten den Boden auf, erst zu kleinen Hügeln, dann zu größeren. Monat um Monat wuchsen Blätter heran und fielen wieder von den Ästen, jedes Jahr wieder stürzten Bäume um. Daffy hatte einmal gemeint, man könne nie zweimal in denselben Fluss steigen. Das Gleiche galt für den Wald. Fünf Winter waren vergangen, seit Robin Ingleby hier gestorben war, und schon waren alle Spuren ausgelöscht.
    Ich ging langsam an dem vermodernden Galgen vorbei und in den Wald hinein. Kurz darauf stand ich wieder am oberen Rand des Ablassfeldes.
    Keine zwanzig Meter

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