Flegeljahre am Rhein
Tage im Oktober sind immer unberechenbar. Hat er Streichhölzer, hat er auch seine Zigaretten nicht vergessen? Civilis überschlägt noch einmal sein ganzes Inventar und überlegt, während er nervös auf und ab geht. Verdammt noch mal, da springt der große Zeiger der Bahnhofsuhr schon wieder mit einem leisen Knacks einen Strich weiter. Civilis wird die Sache allmählich ungemütlich.
Jetzt fehlt nur noch, daß ihn einer der Pauker sieht, wenn er gleich... wo er doch heute morgen schon in sämtlichen Stunden aufgefallen ist vor lauter Aufregung und Spannung und Erwartung und... Endlich, da kommt sie ja!
Civilis zieht seinen Hut und lacht. Hilde nickt leicht mit dem Kopf, huscht an ihm vorbei, ganz wie verabredet, löst sich eine Bahnsteigkarte, geht durch die Sperre. Vorsicht ist die Mutter der heimlich Liebenden. Wer weiß, ob sich im Bahnhof nicht gerade jemand auf hält, der sie oder ihn oder beide kennt. Bitte sehr, Civilis ist Diplomat. Er weiß, daß Liebe manche Hindernisse überwinden muß.
Jetzt geht auch er durch die Sperre und läßt eine der beiden Karten lochen. Die andere wird er dann unterwegs knipsen lassen. Er eilt auf den Bahnsteig, schlackst mit seinem Köfferchen hin und her. Die Leute gehen ihn nichts an. Nein, auch dieses junge hübsche Mädchen da mit den blonden Haaren und dem dunkelgrünen Jackenkleid und dem hellbraunen Köfferchen in der Hand kümmert ihn nicht. Er muß sie nur scharf beobachten und genau sehen, in welches Abteil sie einsteigt. Er wird dann ganz zufällig dasselbe Abteil wählen, er wird — das ist ja alles ganz klar. Civilis weiß ganz genau, wie „man“ so etwas macht.
Von fern ein Stoßen in den Schienen. Eine Glocke schrillt über den Bahnsteig. Die Fahrgäste möchten gefälligst etwas zurücktreten.
Da hält der Zug. Türen schlagen, Türen knarren. Menschen rufen, steigen aus und steigen ein. Es sind nicht viel, man kann sie zählen.
Dann sieht man hübsche Beine aus einem grünen Rock hervorstechen. Die Beine klettern zwei Trittbretter hinauf. Bitte, Herr Schaffner, noch nicht die Türe schließen! Da will noch ein junger Mann einsteigen. Es ist noch ein Sitz frei, wie?
So, Herr Schaffner, jetzt lassen Sie Ihren Zug abfahren! Winke, winke!
Civilis und Hilde sitzen ganz allein im Abteil. Das ist ein Glück! Vor dem Fenster zieht das Bild des Stromes vorbei. Schiffe, Kähne; am anderen Ufer Berge und Häuser im matten Sonnenlichte des Frühherbstes. Alles ist für die beiden geschaffen, die da im Zuge nach Köln sitzen. Für sie ganz allein. Civilis hat Hildes Hand genommen und streichelt sie. Hilde setzt ein vergnügtes Lächeln auf und ist überhaupt schrecklich gut gelaunt. Sie öffnet ihre Handtasche, nimmt eine kleine bunte Dose heraus, setzt ein wenig Rot auf ihre Lippen, tupft mit der Puderquaste ihre Backen — so, und dann soll Civilis ihr eine Zigarette geben. Hier ist doch Raucher? Nein, Nichtraucher. Hilde raucht dennoch. Civilis will kein Feigling sein und tut es auch.
Der Zug hält.
Der Zug fährt weiter.
Wieder dasselbe.
Noch sehr oft.
Dann poltert der Zug langsam über eine große Brücke. Uber den Rhein. Dort ist der Dom. Da ist der Bahnhof. Jetzt sind sie in Köln.
In Köln kann man sehr vieles tun. Geschäfte erledigen, Einkäufe machen. Den Dom besichtigen, in ein Museum gehen. Eine Tante oder einen Onkel hat jeder Rheinländer auch in Köln. Eine Freundin kann man ebenfalls besuchen, um mit ihr Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im Pensionat auszutauschen. Hilde könnte das zum Beispiel...
Hilde ist d e s h a l b nach Köln gefahren. Sie muß doch der Mutter einen plausiblen Grund nennen für die Reise. Eine gute Freundin zieht immer.
Civilis müßte jetzt eigentlich bei seinem Freund in Koblenz angekommen sein. Es ist immer gut, wenn man irgendwo einen Freund wohnen hat.
Hilde und Civilis besichtigen den Dom nicht. Köln ist gar nicht so heilig wie sein Ruf. Es verlangt gar nicht, daß man Bewunderung für seinen Dom zeigt. Es nimmt dich auch sehr freundlich auf, wenn du dich für sein Innenleben interessierst, für die gemütlichen Lokale, für die glatten Tanzflächen, für andere schöne Sachen. Dem jungen Paar, das da eben aus Rheinstadt angekommen ist, zeigt es sich besonders liebenswürdig.
Lichter locken. Musik schenkt gute Laune. Was hast du nur, Civilis? Ein guter Wein prickelt ins Blut. Der Tanz bringt Herzen näher zusammen. Zum Donnerwetter, sei doch nicht so aufgeregt, Civilis! Wie schön, wenn man jung ist.
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