Flegeljahre am Rhein
Meister Tacitus noch nichts gewußt... Gamaschke hat ihn und die ganze Schule vergessen, schreibt und schreibt und merkt nicht, wie unheimlich schnell die Tage der Ferien dahineilen. Er schickt auch manchen Brief nach Rheinstadt, und mancher Brief aus Rheinstadt kommt zu ihm. Ännchen schickt ihm liebe Grüße und freut sich, daß die Ferien bald zu Ende sind. Hilde freut sich ebenfalls — über die Ferien von Civilis nämlich. Sie hat entdeckt, daß ein neunzehnjähriger Oberprimaner ein ganz vernünftiger Mensch sein kann. Civilis hat sich jedenfalls alle Mühe gegeben. Er weiß, wie man das macht. Er hat das früher einmal alles gelesen. Von der Theorie in die Praxis zu steigen, ist eine prickelnde Verlockung.
Civilis hat sich einen Hut gekauft, einen modernen hellen Sommerhut. Eine feine Krawatte dazu. Und noch ein Stöckchen. Hilde findet das so schön. „In Frankreich...“
Hilde wollte ihm etwas erzählen, aber da hat er zärtlich zugepackt und ihr bewiesen, daß die jungen Leute aus Deutschland auch herzlich küssen können. Da hat das Fräulein Hilde große Augen gemacht. Sie treffen sich oft, die beiden. Ob Bruno schon weiß, daß sein schlechtester Schüler in Französisch seine Tochter liebt? Besser nicht. Oder wäre es vielleicht doch gut, wenn er es erfährt? Wenn dadurch ein glattes „Genügend“ in Französisch zu erreichen wäre, dann...
Nein, Hilde, es ist doch besser, wenn dein Vater nichts erfährt. Er wird nichts merken, wenn wir es so halten wie bisher, wenn wir uns oben auf dem Berge treffen...
Civilis merkt, daß man nicht ganz ohne Sorgen liebt, x 2 ist ihm dieser Tage begegnet, als er mit Hilde über den Höhenweg ging, x 2 sah ihn böse und mit gerümpfter Nase an, während er Hilde freundlich grüßte. Was hatte x 2 nur? Civilis weiß es nicht, und es ist ihm auch gleichgültig. Wenn ihm einer die Hilde nicht gönnt oder man ihn mit seinen neunzehn Jahren nicht für „vollgültig“ hält, dann soll er etwas erleben...
Der x 2 soll nur ganz stille sein und nicht meinen, daß Civilis nicht manches wüßte, was dem Herrn Assessor unangenehm sein könnte. Civilis ist im Bilde — x 2 soll sich nur nichts darauf einbilden, weil er mit siebenundzwanzig Jahren in der Oberprima Mathematik unterrichten darf. Genauso alt wie unser Gupp — bitte schön. Civilis weiß ganz genau, daß x 2 jede Woche mindestens zweimal nach Köln fährt. Daß er in die Großstadt reist, um sich die Haare schneiden zu lassen, soll er doch keinem erzählen! x 2 soll sich auch nicht darüber beklagen, daß er zu wenig Geld verdient. Jawohl, Civilis weiß alles. Er weiß sogar etwas ganz Bestimmtes. Aber Civilis weiß auch, was sich gehört. Ein Kavalier schweigt.
☆
Ferien und Sommer. Beide rinnen viel zu schnell dahin. Man sehnt sich nach ihnen. Sie sind da. Sie sind schon vorbei. Die Klassenzimmer des Gymnasiums zu Rheinstadt sind gereinigt, die Böden geölt, die Tintenfässer gefüllt. Apoll in der Oberprima weiß, daß er bald nicht mehr allein und daß seine beschauliche Ruhe dahin sein wird.
Die Fahrt nach Köln soll man nicht vor der Heimfahrt loben
Civilis schaut nervös auf seine Armbanduhr. Er blickt auf die große Bahnhofsuhr. Er macht ein ungeduldiges Gesicht, sieht schon wieder auf die Uhr. Es stimmt, in zehn Minuten fährt der Zug ab. Sie sollte längst schon hier sein! Wenn nun in letzter Minute etwas dazwischengekommen wäre? Aber nein, sie wird ganz bestimmt gleich da sein! Civilis geht ein paar Schritte auf und ab. Beobachtet scharf die Türe. Die Leute, die da kommen und zum Schalter gehen, um sich die Fahrkarte zu lösen, interessieren ihn nicht. Wenn nur... Ruhig Blut, Civilis, sie wird schon kommen!
Civilis hat sich „in Schale geworfen“. Die Bügelfalten seiner Hose sind messerscharf. Die Schuhe, braun und spitz, glänzen. Es glänzt auch sein Gesicht vom frischen Rasieren. Es glänzt seine Krawatte. Es glänzt der ganze Mann. Es glänzt auch der kleine Koffer, den er in der Hand hält.
In seiner rechten Westentasche stechen zwei Fahrkarten. Dritter Klasse Rheinstadt—Köln. Lieber wäre es ihm, die Karten wären grün statt braun. Zweiter Klasse fährt sich besser. Vor allem, weil man dort ungestörter ist. Aber das Geld reicht nicht. Krischan hat ihm sowieso schon etwas pumpen müssen. Mein Gott, wenn er nur auskommt! Köln ist eine teure Stadt, und man weiß nicht, was noch geschehen kann.
Er hätte einen Mantel mitnehmen sollen, einen leichten Regenmantel. Die ersten
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