Fleisch ist mein Gemüse
Reikikarriereleiter Sprosse um Sprosse und ließ sich ständig neue Visitenkarten drucken. «Tobias Strick – Reikimeister», «Tobias Strick – Reikigroßmeister», «Tobias Strick – Reikichef» oder wie die Dienstgrade beim Reiki so gehen.
Mit meiner Laufbahn als Pop-Produzent schloss ich innerlich ab. Ich drohte langsam zur tragischen Gestalt zu werden, die in zehn Jahren immer noch in vom Munde abgesparter Hightech-Umgebung sitzt und ihre Texte aus dem «Bravo-Songbook» abschreibt. Außerdem wollte Anja heiraten und hatte eher eine Karriere als Mutter im Visier. Na ja, Musik ist ja auch ein schönes Hobby. Ich machte nur noch so für mich zum Spaß weiter und um die Zeit totzuschlagen, denn davon hatte ich trotz der vielen Mucken immer noch massig. Mit Mutter ging es derweil keinen Schritt voran. Ich besuchte sie nach wie vor einmal die Woche in ihrer Gruft, Stammessen, laberlaberlaber, rauchirauchi, Merkur disc, und nach zwei Stunden fuhr ich wieder zurück. Dann kam der dritte Oktober, der erste Tag der deutschen Einheit. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ich bin mit Norbert nach Hamburg gefahren, wir haben uns an die Alster gesetzt und Bier getrunken oder was weiß ich. Jedenfalls keinen Sekt. Es gab ein großes Feuerwerk und allgemein Budenzauber. Zu allem Überfluss hatte die deutsche Fußballnationalmannschaft unter der Ägide des doofen Franz Beckenbauer die Weltmeisterschaft gewonnen. Jetzt waren die Deutschen wieder die Größten. Misstrauisch beäugten wir den Mummenschanz. Was waren die Menschen doch dumm. Außer Rand und Band feierten sie hier ihren eigenen Niedergang.
1991
Die Bombe
Während meine braven Kollegen praktisch nur noch Mineralwasser tranken, war ich saufmäßig fast schon wieder wie früher dabei. Ich wäre sonst gestorben vor Langeweile. Langeweile im Endstadium, ich verbrachte meine Tage wie mit einer Überdosis Insektengift aufgepumpt in einer Art Duldungsstarre. Langeweile gleich entarteter Stillstand minus Zeit. Das war meine Formel. Zeit genug, mir so meine philosophischen Gedanken zu machen, hatte ich ja. Raum und Zeit waren im Zwergenhaus so stark gestaucht, dass ich das Gefühl hatte, statt dreidimensional nur noch halbdimensional zu existieren und mich zu einem unendlich kleinen Punkt zu verdichten. In einer kaskadierenden Verschachtelung verschränken sich die Wahrnehmungsebenen so ineinander, dass am Ende nur noch ein virtuelles Knäuel, ein Knäuel aus Licht, übrig bleibt, das sich nicht mehr synchron zur Zeit bewegt, sondern von ihr weg. Und genau ab da verläuft das Leben nicht mehr symmetrisch, sondern asymmetrisch. Vielleicht war ich jetzt ja auch endgültig verrückt geworden und merkte es nur nicht. Oder ich war ein großer Privattheoretiker. Gibt es Rezepte gegen Langeweile? Ja, man kann zum Beispiel die Milch überkochen lassen und stundenlang die verkohlten Placken vom eingebrannten Ceranfeld schaben. Oder den Inhalt des Staubsaugerbeutels in der ganzen Wohnung verteilen, nur um anschließend die Sauerei analog mit Kehrblech und Fegerwieder zu beseitigen. Man kann Klimatabellen von Zwergstaaten führen, aus alten Topflappen Flurteppiche nähen oder aus Eisstielen und zerschlagenem Altglas rezeptfreie Lesebrillen basteln.
Meine wirksamsten Waffen gegen Langeweile waren aber immer noch Jubiläumsaquavit und Bier. Der Mineralwasserkonsum der Kollegen stieg derweil besorgniserregend, ein richtiger Trend wurde das bei
Tiffanys
. Laut Expertenurteil von Norbert sollten am Tag mindestens drei Liter getrunken werden, um Gifte auszuschwemmen, die Zellmembran elastisch zu erhalten und noch anderen Quatsch. Am besten gleich auch noch stilles Wasser, die sinnloseste Erfindung der letzten hundert Jahre. Mich regte das auf, und aus Trotz trank ich oft tagelang ausschließlich Kaffee und abends natürlich Bier. Keinen einzigen Schluck Wasser. Und? Ging es mir nur einen Deut schlechter als den anderen? Eben! Ich war schließlich kein Kamel.
Eine lustige Begebenheit hat sich in diesem ansonsten ereignislosen Jahr dann aber doch zugetragen. Jens hatte als passionierter Fleischesser öfter unter Blähungen zu leiden. Oft fragte er schon beim Essen laut in die Runde, wie
das
wohl später riechen würde. Es stank meist ganz entsetzlich nach Problemen, Arbeitslosigkeit und chronischen Krankheiten, doch wir amüsierten uns wie die Kinder über die Feuerwerke, die da an so manchem Abend abbrannten. Einmal war es wieder besonders schlimm. Das Hochzeitsessen
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