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Fleisch ist mein Gemüse

Fleisch ist mein Gemüse

Titel: Fleisch ist mein Gemüse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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werden, dann machte auch noch der einzige Edeka-Laden dicht, und irgendwie ging alles den Bach hinunter. Die Todtglüsingerhockten entweder den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher, oder sie saßen im einzigen Gasthof, dem
Gasthof Bruhn,
und soffen. Gesoffen haben sie natürlich auch zu Hause. Die jungen Leute sahen zu, dass sie Land gewannen, und zurück blieben die Alten, Kranken, Kraft- und Mutlosen. Selbst Schützenverein und Freiwillige Feuerwehr hatten sich aufgelöst. Der Ort war dem Untergang geweiht. Das letzte gesellschaftliche Ereignis war der Faslam, der natürlich im
Gasthof Bruhn
gefeiert wurde. Der Bruhn’sche Festsaal verfügte über keine Bühne, sodass wir mitsamt unserer Anlage quasi auf der Tanzfläche standen. Bereits gegen neun war schätzungsweise ein Drittel der Männer schwer betrunken.
    Über dem
Gasthof Bruhn
schwebte eine Wolke aus Verzweiflung, Hysterie, Bierdunst und Aggression. Schnell kamen mir ernsthafte Bedenken, ob es uns gelingen würde, diese Abschlussfeier der Untoten unbeschadet wieder zu verlassen. Brandstiftung, Amoklauf, Kannibalismus, alles schien denkbar. Als besonders verhängnisvoll entpuppte sich der Umstand, dass es wegen der fehlenden Bühne zwischen uns und dem Publikum keine Knautschzone gab. Je betrunkener die Leute waren, desto hemmungsloser tanzten sie bedrohlich nahe an uns vorbei und guckten dabei so böse, wie sie nur konnten. Sie wollten uns unmissverständlich klarmachen, wer hier Herr im Haus war. Musikwünsche wurden nicht höflich vorgetragen, sondern drohend eingefordert. Ich überlegte, wie lange es wohl dauerte, bis die Polizei vor Ort sein könnte. Bis dahin wären wir alle tot.
    Auch in Todtglüsingen gab es einen Umzug mit abschließender Wagenprämierung. Gegen halb neun betrat eine Sabine oder Susanne oder Silke die Bühne, um über Mikrophon die Ergebnisse bekannt zu geben. Wir benutzten seinerzeit das Effektgerät SPX 90, welches über den so genannten
Pitch-shift
die Tonhöhe des Eingangssignals veränderte. Man konnte diesen Effekt so anwenden, dass sich ein ausgewachsener Mannanhörte wie eine Mickymaus oder eine zierliche Frau wie ein uralter Greis, der bald an einer schweren Lungenkrankheit stirbt. Das SPX 90 war eines der ersten digitalen Geräte mit dieser Funktion und von besonders schlechter Qualität: Es klang nicht einen Hauch natürlich. Mir war zu diesem Zeitpunkt bereits alles egal, und ich drehte einfach so den Effekt voll auf. Susanne oder Sabine oder Silke klang wie ein sterbendes Alien. Ihre Stimme war so tief und schnarrend, dass man kaum noch etwas verstand. Die Kollegen guckten mich entgeistert an. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass wir jetzt gelyncht würden. Es gab jedoch nicht die geringste Reaktion. Susanne oder Sabine oder Silke las völlig ungerührt die Ergebnisse vor. Ein kaputter, alter Roboter stand auf der Bühne, predigte in einer unbekannten Sprache, und die betrunkenen Todtglüsinger lauschten mit glasigen Augen. Ich schwöre, niemand hat sich beschwert. Mit stierem Blick gab Susanne oder Sabine oder Silke schließlich das Mikro zurück und ging zum Tresen, einen Korn trinken. Und wir spielten zum wiederholten Mal das Faslamslied:
    «Alle Faslamsbrüder leben so wie ich und du,
    alle Faslamsbrüder leben so wie wir.
    Sie legen sich besoffen nieder,
    stehen auf und saufen wieder.
    Alle Faslamsbrüder leben so wie wir.
    Hoch das Bein, das Vaterland soll leben,
    hoch das Bein, die Schweinepreise steigen.
    Solang de Buuk in de West noch passt,
    wird keine Arbeit angefasst,
    und passt de Buuk in de West nicht mehr,
    lang mal die Arbeit her.»
    Irgendwann waren die Leute zu betrunken, um zu tanzen. Diejenigen, die sich gegenseitig totschlagen wollten, sind dazu freundlicherweise nach draußen gegangen. Mehrmals wurde gedroht, uns mitsamt unserer Anlage
kaputtzumachen
, und wirhatten es nur dem beherzten Eingreifen des noch halbwegs nüchternen Vorsitzenden zu verdanken, dass wir heil davonkamen.
    In Todtglüsingen haben wir nie wieder gespielt, obwohl sie uns im nächsten Jahr unbedingt wiederhaben wollten und sogar bereit waren, noch dreihundert Mark Gage draufzulegen. Wie es den Todtglüsingern heute wohl geht? Steht die Ortschaft überhaupt noch? Was macht Susanne oder Sabine oder Silke? Vielleicht hat es ja auch einen überraschenden Aufschwung gegeben. Ich drücke dem gebeutelten Dorf jedenfalls fest die Daumen.

Aussichten
    Nachdem auch mein giftgrüner Datsun Sunny schlappgemacht hatte (Durchrostung),

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