Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
gerettet.
Dieser Gedanke gab ihr Trost. I n diesem Augenblick war er ihr rettender Hafen, in einem tobenden Meer aus Angst.
Kurz darauf fühlte sie nichts mehr.
94 .
Claire glaubte nicht, dass sie sich je von den Geschehnissen erholen würde, die sie an diesen Tage n Anfang November erlebt hatte.
Sie wusste zwar, dass die Erinnerung daran mit der Zeit verblassen würde und dass es ihr irgendwann vielleicht sogar gelingen würde, wiede r ein normales Leben zu führen. Gleichzeitig ahnte sie, dass es sich grundlegend von dem Leben unterscheiden würde, das sie bis zu diesem Zeitpunkt geführt hatte.
Fortan würde Angst ihr ständiger Begleiter sein. Sie hatte in den Abgrund geblickt und der Abgrund hatte sie verändert. Nietzsches Weisheit hatte an ihr ein groteskes Exempel statuiert: Die Finsternis des Abgrundes hatte sich eingeschlichen und für immer einen Teil ihrer Seele für sich beansprucht. D as E inzige , was sie tun kon nte, war, sich damit abzufinden und die Dinge zu akzeptieren, die vorgefallen waren.
Doch Claire wusste, dass das nicht stimmte. Sie konnte auch noch etwas anderes tun. Etwas , was sie ihr gesamtes Leben getan und mit dem sie ihr Geld verdient hatte:
Sie konnte schreiben - konnte ihre Ängste zumindest aufschreiben, um sich ein bisschen Linderung zu verschaffen. Sie konnte sie in ihren Notizblock bannen und dem Wahnsinn dadurc h eine Gestalt geben .
Und genau da s hat sie letztlich auch getan.
Die nachfolgenden Seiten sind die persönlichen Aufzeichnungen von Claire Hagen . Sie wurden in der Jagdhütte gefunden, von Charles Decker, dem Sheriff von Rockwell County.
Derzeit stellen sie einen wichtigen Hinweis bei der Suche nach Claire und ihrer Schwester Amanda dar. Beide sind zur Fahndung ausgeschrieben. Und von beiden fehlt nach wie vor jede Spur.
16. November
Muss mich ablenken. Die Schmerzen machen mich verrückt. Kann nicht klar denken. Amanda ist noch immer nicht aufgewacht. Muss mich zum Essen zwingen, ich spüre, wie meine Kräfte schwinden. Die Wunde hat sich entzündet. Das Fieber ver brennt mich bei lebendigem Leib . Und dann noch diese Träume. Diese schrecklichen Träume...
22. November
Das Fieber ist abgeklungen . Die Schmerzen in der Schulter lassen nach. Ich kann den Arm immer noch kaum bewegen. Ich habe die Stelle mehrmals abgetastet und glaube nicht, dass das Schulterblatt von der Kugel getroffen wurde. Sicher werde ich das jedoch erst nach einer Röntgenuntersuchung wissen. Zumindest bin ich mir sicher, dass ich keinen Steckschuss davongetragen habe. Die Kugel ist durch mich hindurchgegangen, ich habe sie in der Holzwand der Hütte gef unden und mit dem Messer heraus gepult. Es war ein Vollmantelgeschoss und obwohl es deformiert war, konnte ich erkennen, dass es nicht gesplittert ist. Jedenfalls ist das Fieber seit zwei Tage n nicht wiedergekehrt. Ich habe inzwischen auch wieder Appetit. Aber ich mache mir noch immer schreckliche Sorgen um Amanda. Es gelingt mir nicht sie aufzuwecken. Ich habe Angst, dass sie ins Koma gefallen ist. Habe Angst, dass sie stirbt.
23. November
Amanda ist wach. Ich bin überglücklich. Sie sitzt nur da und starrt mich an. Immer wieder fallen ihr die Augen zu. Sie redet und isst nicht. Trotzdem habe ich Hoffnung. Ein bisschen zumindest.
26. November
Amanda geht es inzwischen besser. Anfangs hat sie fast den ganzen Tag geschlafen und war nur aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. S ie hat mich angesehen, ohne ein einziges Wort mit mir zu sprechen. Sie hatte eine Scheu in den Augen, die mich an ein wildes Tier erinnerte. Doc h seit gestern geht es mit ihr bergauf. Sie isst wieder, wenn auch etwas zögerlich. Sie spricht auch hin und wieder ein paar Worte. Je mehr Zeit vergeht, umso besser kann ich sie verstehen. Sogar ihre Haare wachsen langsam nach. Ich bin guter Hoffnung, was sie angeht.
27. November
Amanda hat mir erzählt, was mit ihr vorgefallen ist . Wort für Wort hat sie es mir geschildert . Hat es aufgesagt, wie ein Kind, das ein Gedicht auswendig gelernt hatte: S ie war auf dem Nachhauseweg von einem Club gewesen , als es passierte. Ein Mann fiel über sie her. Er war in Lumpen gehüllt und sah aus wie ein Obdachloser. Zuerst glaubte sie, dass er versuchte sie zu vergewaltigen. Doch stattdessen hat er sie gebissen. Danach hat er sie verfolgt und hat meh rmals von ihrem Blut getrunken. Wie lang genau dieser Alptraum ging , konnte sie selbst nicht mehr sagen. Ich glaube,
Weitere Kostenlose Bücher