Fleisch
dass der Obduktionssaal sie beeindruckte. Es war ein heller, glänzender und recht großer Raum im Keller des städtischen Krankenhauses. So etwas hatte sie nicht erwartet, nachdem sie herausgefunden hatte, wie archaisch die Rechtsmedizin hier organisiert war.
Gestern Abend hatte Lucy versucht, ihr zu erklären, dass es die Rechtsprechung in Nebraska erforderte, dass der Bezirksstaatsanwalt zugleich der Rechtsmediziner und somit zuständig für alle Ermittlungen bei Tötungsdelikten im County war. Dieses Gesetz war neunzig Jahre alt und hatte kaum anderswo Schule gemacht, da es den einzelnen Staatsanwälten der Countys überließ, ob und wann überhaupt eine Ermittlung durchgeführt wurde. Eine medizinische Ausbildung war ebenfalls nicht nötig. Die Teilnahme an einer Schulung zur Aufklärung von Tötungsdelikten – ein eintägiger Lehrgang in Lincoln – war freiwillig. Ein Mal war Lucy Coy sogar die einzige professionell ausgebildete Rechtsmedizinerin in fünf Countys gewesen.
„Sie müssen wissen“, hatte Lucy gesagt, „dass in ganz Nebraska rund 1,8 Millionen Menschen leben, eine Million davon in einem Fünfzig-Meilen-Radius um Omaha. Dort gibt es natürlich einen eigenen Rechtsmediziner und einen Obduktionssaal und eine Mordkommission – den ganzen Luxus einer Großstadt, wenn man so will. Aber wissen Sie, in diesem Teil des Landes ist es nicht so, dass jede Woche Leute erstochen oder erschossen würden. Es ist schlicht nicht notwendig, hierall diese professionelle Technik zu haben.“
„Es sei denn, jemand aus der Familie oder dem Freundeskreis wird hier draußen inmitten der Sandhügel erstochen oder erschossen“, hatte Maggie entgegnet.
„Angeblich“, erwiderte Lucy achselzuckend, „ist West-Nebraska keine schlechte Gegend, wenn man ungeschoren mit einem Mord davonkommen möchte.“
Maggie erinnerte sich an Donnys gestrige Geografie-Nachhilfe, in der er gesagt hatte, dass es hier deutlich mehr Rinder als Menschen gäbe. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch nicht recht nachvollziehen können, was diese Abgeschiedenheit wirklich bedeutete.
Maggie hatte immer gedacht, dass es die Kittel, die man bei Obduktionen anziehen musste, nur in XL und XXL gab, und zwar deswegen, damit sich Gäste noch verwundbarer fühlten. Manchmal brauchten die Mordermittler ein wenig Demut, um eine Beziehung zum Opfer herstellen zu können. Doch der Kittel von Donny Fergussen saß eng über seinem mächtigen Brustkorb. Und die Schuhüberzieher reichten nicht bis an seine Ferse.
Lucys Finger in den Latexhandschuhen verharrten an Kyle Bandors Fußknöchel. Sie sah Maggie an.
„Ich habe gehört, was geschehen ist“, sagte sie. „Geht es Ihnen gut?“
„Sie haben schon von Johnny Bosh gehört?“
„Unglücklicherweise verbreiten sich schlechte Neuigkeiten schnell. Oliver Cushman wird die Ermittlungen leiten.“
„Der Bezirksstaatsanwalt? Den ich gestern Abend weggeschickt habe?“
„Genau.“
„Großartig. Wird er überhaupt eine Obduktion anordnen?“
„Bei einem Selbstmord?“ Lucy sah Donny an, aber er zuckte nur mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht. Ich hoffe, dass er wenigstens eine toxikologische Untersuchung durchführen lässt.“ Sie warf Maggie einen Blick zu. „Man kann nicht immervon außen erkennen, was jemand eingenommen hat. Wie sah er denn aus?“
„Tot“, sagte Maggie grob. Sie vermied es, Lucy anzuschauen, als sie merkte, dass sie sie besorgt musterte. Es gefiel ihr nicht, dass sie, sobald sie ihre eigenen Augen schloss, die von Johnny Bosh vor sich sah, die sie anstarrten.
„Ich habe nichts gefunden, was auf Drogenkonsum hindeuten würde“, berichtete Maggie. „Seine Haut war nicht gerötet, wie es bei manchen Vergiftungen vorkommt. Seine Augen waren blutunterlaufen, aber es sah nicht nach geplatzten Äderchen aus, also hat das, was er genommen hat, nicht zur Erstickung geführt. Ich habe kein Erbrochenes gesehen oder gerochen. Seine Mutter hat allerdings gesagt, sie vermisse das Oxycontin aus ihrem Medizinschrank.“
„Kommt natürlich darauf an, wie viel er davon genommen und ob er es zerstoßen hat … Vermutlich hat er einen Herzstillstand erlitten. Gab es einen Abschiedsbrief?“, fragte Lucy.
„Wenn einer existiert, hat man ihn bis jetzt noch nicht gefunden.“ Maggie dachte wieder an das Handy des Jungen, das nun in der Seitentasche ihres Koffers steckte. Sie hoffte, in ihm irgendwelche Hinweise zu finden. Später würde sie versuchen, ob sie den Akku aufladen und
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