Fleischeslust - Erzaehlungen
wurde »Chaos« ihrem Zustand nicht gerecht. Sie sah aus, als wäre eine Woche lang eine Pavianhorde darin eingeschlossen gewesen. Jede Schallplatte, die ich besaß, lag ohne Hülle da und sammelte Staub an; meine Bücher waren im gesamten Wohnzimmer verstreut, aufgeklappt wie verkrüppelte Wesen; Kleider, Laken und Kopfkissen lagen herum, und auf allen horizontalen Flächen häuften sich kunterbunt Schnellimbißverpackungen und zerknüllte Tüten: Kentucky Fried Chicken, Chow-Foo Luck, McDonald’s, Arby’s, Taco Bell. Sie telefonierte im Nachbarzimmer – Ferngespräch nach Rußland –, und sie hatte immer noch das T-Shirt vom Morgen zuvor an. Sie sagte etwas auf russisch, und dann hörte ich: »Ja, und mein amerikanischer Freund, der ist sooo reich...«
»Irina?«
»Ich muß jetzt Schluß machen. Do swidanja .«
Ich ging ins Schlafzimmer, und sie stürzte sich quer durch den Raum direkt in meine Arme, dabei schluchzte sie, schluchzte schon im Flug. Ich war verwirrt. »Was ist denn los?« fragte ich und umfing sie hilflos. Ich hatte plötzlich die schreckliche Ahnung, sie werde mich verlassen, wolle weiterreisen nach Chicago und New Orleans und New York, und ich spürte, wie sich eine Senkgrube des Verlusts in mir öffnete. »Bist du – ist alles in Ordnung?«
Ihr Atem war heiß an meinem Hals. Sie begann, mich dort zu küssen, immer wieder, bis ich sie an den Schultern packte und sie zwang, mir in die Augen zu sehen. »Irina, sag mir: Was ist los?«
»Ach Casey«, stieß sie so leise hervor, daß ich sie kaum hören konnte. »Ich bin gewesen so dumm. Sogar in Rußland müssen wir unsere Sachen abschließen, ich weiß, aber konnte ich mir doch nicht im Traum denken, daß hier, wo jeder so viel hat...«
Und so kam ich dahinter, daß mein Achthundert-Dollar-Fahrrad gestohlen worden war, ebenso wie ich feststellen mußte, daß das Messerwerk der Küchenmaschine ruiniert war, weil sie versucht hatte, eine ganze Ananas darin zu würfeln, daß die Hälfte meiner Platten total zerkratzt war und daß mein neues weißes Jackett von Ci Siamo Flecken hatte, von Lippenstift oder Kirschsaft oder von mir aus auch Blut.
Ich verlor jeden Sinn für Humor, alle Nachsicht, alle Güte, alle Coolness. Es gab eine Szene. Anschuldigungen flogen hin und her. Mir sei sie doch ganz egal, kreischte sie; Sachen seien mir wichtiger als sie. »Sachen?« fauchte ich. »Wer verbringt denn hier den halben Tag bei Robinson’s und Saks und May Company? Wer telefoniert nach Rußland, als würde der liebe Gott persönlich vom Himmel herabsteigen, um die Rechnung zu zahlen? Wer hat mir noch niemals angeboten, für irgendwas hier einen Penny beizusteuern, kein einziges Mal?«
Das Haar hing ihr wild ins Gesicht. Einzelne Strähnen klebten in der plötzlichen Nässe, die auf ihren Wangenknochen glänzte. »Ich bin dir egal«, sagte sie mit ihrem dünnen Stimmchen. »Für dich ich bin nur ein vorübergehendes Vergnügen.«
Dazu hatte ich nichts zu sagen. Ich schäumte vor Wut, während sie im Zimmer herumflitzte, Jeans und Stiefel anzog, in ihre babyblaue Lacklederjacke schlüpfte, die Zigarette in einer schmutzigen Kaffeetasse ausdrückte. Sie warf mir einen Blick zu – in ihm lagen Verachtung, Verärgerung und Gram –, dann ergriff sie ihre Handtasche und stürmte zur Tür hinaus.
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ständig horchte ich auf ihren Schlüssel im Schloß, stellte mir vor, wie sie sich ihren Weg durch die Punks und Bettler auf dem Boulevard bahnte, und fragte mich, ob sie wohl jemanden hatte, zu dem sie gehen konnte. Ein bißchen Geld besaß sie, das wußte ich, aber sie hortete es wie ein Kapitalist, und obwohl sie alle Markennamen auswendig kannte, kaufte sie nie etwas. Ich sah ihre absurden Go-go-Stiefel vor mir, die Fransenjacke, ihren kecken, aufreizenden Gang, der mit ihrem phlegmatischen russischen Wesen kontrastierte, und ein halbes dutzendmal wollte ich sie suchen gehen, überlegte es mir dann aber wieder. Am nächsten Morgen, als ich aufstand, war meine Wohnung verlassen.
Im Lauf des Tages rief ich mehrmals zu Hause an, aber niemand hob ab. Ich war wütend, verletzt, krank vor Sorge. Endlich, gegen vier Uhr, ging sie ans Telefon. »Hier Irina«, sagte sie, und ihre Stimme war müde und matt.
»Ich bin’s. Casey.«
Keine Antwort.
»Irina? Alles in Ordnung?«
Pause. »Mir geht es gut, danke.«
Ich wollte fragen, wo sie die Nacht verbracht hatte, wollte Bescheid wissen, Besitz ergreifen, Forderungen stellen,
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