Fleischessünde (German Edition)
zweiten Mal in ihrem Leben in diesen unterirdischen Gemächern. Das kam nicht häufig vor. Viele Mitglieder der Garde waren niemals vor das Angesicht der Matriarchinnen getreten.
Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie diese Türen und Gänge passiert hatte. Es war vor zehn Jahren gewesen, und siewar damals zur Mentorin berufen worden und hatte die unerhört ehrenvolle und schöne Aufgabe erhalten, ein junges Mitglied der Garde auf seinem Weg zu führen. Roxy. Damals war sie hierher eingeladen worden, heute wurde sie vorgeladen.
Dennoch stand sie zu dem Vorgehen, das ihr die Vorladung eingebracht hatte, und im Zweifel würde sie wieder so handeln. Sie hatte Kuznetsov der Isisgarde übergeben und verhindert, dass er samt seinem Wissen um gewisse Dinge den Seelensammlern in die Hände fiel. Das Ergebnis war das gewünschte, die Methoden waren sicherlich fragwürdig. Wenn sie nun dafür bestraft wurde, musste sie das hinnehmen.
Sie atmete einmal durch, als sie hörte, wie sich die Tür mit einem leisen Klick hinter ihr schloss. Lichter flammten auf, sodass Calliope zunächst geblendet war. Als sich ihre Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass der Lichtkegel um sie herum einen beleuchteten Kreis von etwa drei Metern im Durchmesser bildete. Außerhalb dessen war alles in schwarze Finsternis gehüllt. Wäre sie ein Stück weiter vorgetreten und hätte die Hand ausgestreckt, wäre sie gegen eine massive Glaswand gestoßen. Sie stand unter einer Kuppel aus Glas, die sie schon von ihrem ersten Besuch her kannte.
Langsam gingen auch die Lichter außerhalb ihrer Glasglocke an, zuerst nur schwach glimmend, dann wurden sie heller und heller, bis der ganze Raum komplett ausgeleuchtet war.
Am gegenüberliegenden Ende der weitläufigen Halle standen auf einem steinernen Podest drei gleiche hohe Stühle aus libanesischem Zedernholz, in das der „Knoten der Isis“, den man auch „Blut der Isis“ nannte, eingeschnitzt war. Rückenlehne und Sitzfläche bedeckten tiefrote Polster mit einem eingewebten goldenen Faden. Innerhalb der Glasglocke, die Calliope umgab, fehlte ein Stuhl oder eine andere Sitzgelegenheit. Ein Seidenteppich in Rot, Beige und Braun unter ihren Füßen war der einzige Komfort.
Sie hatte keine Ahnung, wann die Matriarchinnen erscheinen würden. Deshalb schien es ihr geraten, die Zeit bis dahin zunutzen, um ein wenig auszuruhen. Trotz ihrer maßlosen Erschöpfung wagte sie es nicht, sich auf dem weichen Teppich zusammenzurollen und zu schlafen, was sie am liebsten getan hätte. So setzte sie sich mit gekreuzten Beinen nieder und entspannte sich. Allmählich fand sie in der Meditation Ruhe und Frieden und konnte auf diese Weise Körper und Geist eine kleine Ruhepause verschaffen.
Wie lange die Pause währte, hätte sie nicht sagen können. Nach einer Weile durchzog ein Strom von Energie den Raum. Calliope merkte es sofort, öffnete die Augen und erhob sich. Es musste schon eine geraume Zeit vergangen sein. Sie brauchte gar nicht auf ihre Armbanduhr zu schauen, denn sie wusste, dass die in dem Moment stehen geblieben war, als sich die Glaskuppel über ihr geschlossen hatte, und sie würde auch ihren Gang nicht fortsetzen, bevor sie darunter herauskam – wenn sie herauskam.
Ein Dutzend bewaffnete Wachen betraten den Raum. Wie einen lebenden Wall bildeten sie einen Ring um drei Frauen, die in lange rote Gewänder gekleidet waren. Die Kapuzen nach Art der Mönchskutten hatten sie tief heruntergezogen, sodass ihre Gesichter nicht zu sehen waren. So war es immer. Die Ältesten hielten sich verborgen und wurden aufs Schärfste bewacht. Früher hatte sich Calliope darüber gewundert, waren sie doch die Stärksten und Mächtigsten in den Reihen der Garde. Waren nicht sie es, die die Schwächeren beschützen sollten, statt beschützt zu werden?
Nach und nach hatte sie es besser verstanden. Das Leben und die Unversehrtheit der Matriarchinnen war das wertvollste Gut, das die Garde hatte. Sie waren die Mütter, Amunet, Beset und Hathor. Sie waren die Bewahrerinnen der Geschichte, Trägerinnen der Weisheit von Jahrhunderten.
Hoch aufgerichtet bewegten sie sich vorwärts, als berührten ihre Füße den Boden nicht. Vielleicht schwebten sie tatsächlich. Erkennen konnte man es unter ihren langen Roben nicht. Als sie auf den drei hohen Stühlen Platz genommen hatten, geselltesich eine weitere Frau hinzu, die in respektvollem Abstand hinter den drei Matriarchinnen Aufstellung nahm. Sie war
Weitere Kostenlose Bücher