Fleischessünde (German Edition)
stehen und drehte sich um. Mit einem Wink schickte sie die Wachen fort, sodass sie allein waren. „Es dauert hundertzwanzig Tage, bis sich dein Blut wieder regeneriert hat“, sagte sie dann, ohne dass ein Vorwurf hindurchklang.
Hundertzwanzig Tage – vier Monate hier festgehalten, wo so viel zu tun ist, dachte Calliope entsetzt. „Aber das Treffen der Großen der Unterwelt. Sollte ich nicht …?“
„Nein, nun nicht mehr“, unterbrach Beset sie. „Wir werden jemand anderen schicken. Solange wir nicht genauer wissen, was mit dir los ist, können wir dich nicht mit Aufgaben betreuen.“
Calliope hatte erwartet, dass das Gespräch damit zu Ende war und sich Beset zu den beiden anderen Matriarchinnen gesellen würde, die die Halle inzwischen verlassen hatten. Stattdessen glitt Beset näher, sodass sie nur noch wenige Meter voneinander trennten.
„Sprich deine Fragen aus, Calliope. Ich merke, dass sie dich beunruhigen. Es liegt mir nichts daran, es dir noch schwerer zu machen, als es ohnehin ist. Wir sind keine Ungeheuer, aber wie du weißt, müssen wir unsere Entscheidungen im Sinne der Garde treffen. Das bedeutet nicht, dass wir gegen jedes Mitgefühl taub sind.“ Sie verschränkte die Arme unter den weiten Falten ihres Gewands. „Genauso wie du aus Mitgefühl Roxy Tam von ihrem Dienst entbunden hast, obwohl du den Grund dafür, die Verbindung, die sie eingegangen war, nicht gebilligt hast. Frage, was du möchtest.“
Calliope wusste nicht, wie viele von den vielen Fragen, die sie hatte, ihr gewährt werden würden. Deshalb zählte nun jede einzelne. Aber als sie den Mund aufmachte, kam etwas ganz anderes heraus, als sie gewollt hatte. „Kennt Kuznetsov den Mörder von Lokan Krayl?“
„Ja.“
„Ist er sich dessen bewusst , dass er ihn kennt?“
Beset lachte leise. Es klang ein wenig spröde, so als hätte sie schon lange keine Übung mehr darin. „Nein. Seine Erinnerung daran ist blockiert. Er weiß zwar, dass er Zeuge dieses Vorgangs geworden ist, dass er dabei war. Er kann auch andere Sterbliche benennen, die ebenfalls anwesend gewesen sind. Aber welcher Supernatural seine Hände mit dem Blut des Reapers besudelt hat, ist aus seinem Gedächtnis gelöscht.“
Nichts anderes hatte Calliope erwartet, und gerade das machte sie stutzig. Sprach Beset die Wahrheit, oder hatte sie ihr einfach die Antworten gegeben, von denen sie wusste, dass Calliope mit ihnen rechnete?
„Sind wir für den Tod des Reapers verantwortlich?“, fragte sie als Nächstes. „Hat Kuznetsov mit der Garde zusammen gemeinsame Sache gegen Sutekh gemacht?“
Wieder lachte Beset kurz auf. Dieses Mal glaubte Calliope jedoch eine Spur von Bitterkeit heraushören zu können. Oder auch eine versteckte Warnung.
„Solche Fragen solltest du nur stellen, wenn du bereit bist, die Konsequenzen der Antworten darauf zu ertragen. Noch steht es dir frei, diesen Ort irgendwann wieder zu verlassen und der Garde unter den Sterblichen zu dienen. Und das wünschst du dir doch auch, oder?“
Das war deutlich genug. Wenn sie auf einer Antwort bestand, konnte sie das ihre Freiheit kosten. Oder gar das Leben. Aber genügte diese Drohung nicht schon, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen? Demzufolge hätte Isis – möglicherweise auch Osiris – den Anschlag auf Lokan Krayls Leben als gezielten Angriff auf Sutekh verübt. Wenn das stimmte, blieb die Frage, warum das ausgerechnet jetzt passierte. Sechstausend Jahre hatte der Waffenstillstand zwischen ihnen gehalten.
Calliope wunderte sich über sich selbst. Wieso beschäftigte das sie plötzlich? Die längste Zeit ihres Lebens hatte sie in derGarde verbracht, hatte Befehlen gehorcht und ihre Aufträge gewissenhaft ausgeführt, aber nie etwas davon infrage gestellt. Sich der Hierarchie unterzuordnen, sich einer übergeordneten Idee zu widmen, hatte ihr geholfen, die Verletzungen und Verluste der Vergangenheit zu überwinden und innere Ruhe zu finden. Niemals wieder wollte sie dieses Grauen erleben.
Die Gelegenheit einer Privataudienz bei einer der Matriarchinnen war einmalig. Sie wusste nicht, wann es das schon einmal gegeben hatte. Sie wollte schon zu ihrer nächsten Frage ansetzen, aber da verschlug es ihr die Sprache. Beset stand plötzlich direkt vor ihr auf der anderen Seite der bruchsicheren Glasscheibe. Trotzdem konnte sie das unter der tief herabgezogenen Kapuze versteckte Gesicht nicht erkennen. Aus dieser Nähe konnte Calliope nur sehen, dass das weite Gewand, das Besets Gestalt
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