Flesh Gothic (German Edition)
unverschämt attraktive Strandschönheiten in provokativ knappen Bikinioberteilen und hauchdünnen Sarongs. Seit Westmore bei der Zeitung gekündigt hatte, war er nicht mehr beim Friseur gewesen; mittlerweile besaß er eine schulterlange, dunkle Mähne, und als er die Second Avenue überquerte, traf ihn ein Windstoß ins Gesicht und blies ihm die zersausten Haare vor die Augen. Er griff nach seinem Kamm und runzelte die Stirn, als er merkte, dass er ihn vergessen hatte. Ja, ich werde wirklich einen großartigen Eindruck hinterlassen.
Vor ihm erstreckte sich das Zentrum von St. Petersburg, sauber und nicht überlaufen. Es war ein kleines, abwechslungsreiches Städtchen, das aus irgendeinem Grund das Flair einer Metropole ausstrahlte. Das Kneipenviertel kam ihm vor wie ein Best-of amerikanischer Gastrokultur: ein wenig Bourbon Street, vermengt mit etwas Rodeo Drive und gewürzt mit Krümeln von Baltimores Inner Harbor. Westmore gefiel das – feine, aber schlichte Lokale, kultivierte, aber authentische Menschen und schicke Bars. Als er jedoch an einer dieser Bars vorbeilief, verspürte er einen Stich im Herzen. Ja, er mochte diese Gegend, trotzdem kam er hier nicht gerne her. Er konnte sich selbst nicht mehr trauen.
Die Neonlaufschrift im bodenhohen Fenster der Martinibar hätte genauso gut seinen Namen anzeigen können. Er konnte die Traurigkeit und den Verlust eines Teils von sich – so schlimm er auch gewesen sein mochte – nicht gänzlich abschütteln.
Er folgte dem nächsten Häuserblock und trat aus dem Sonnenschein in den kühlen Schatten, den eines der höchsten Gebäude der Innenstadt warf. Ehe er sich’s versah, stand er vor seiner Lieblings-Austernbar und beobachtete, wie der geschickte Schäler mühelos die obere Schale von Muscheln entfernte, die größer als seine Hand waren. Während seiner Zeit bei der Zeitung hatte Westmore oft hier gegessen. Auch etwas anderes hatte er hier oft getan. Während er durch das Fenster starrte und die unzähligen Reihen erstklassiger hochprozentiger Tropfen begutachtete, dachte er mit vager Nostalgie daran zurück.
Schließlich wandte er sich ab.
Der Schatten der Straße fiel auf ihn herab. Er hatte das Strauss Building in der Vergangenheit unzählige Male gesehen: elegant, schmal, 40 Stockwerke hoch. Es sah aus wie ein riesiges Rechteck aus völlig glattem, völlig schwarzem Vulkanglas – denn die dunkel getönten Fenster bildeten zugleich die äußere Hülle des Gebäudes. Er hatte es oft gesehen, ja, aber er hatte lange nicht gewusst, dass es sich um einen Wohnturm handelte; Westmore hatte es immer für einen Bürokomplex gehalten. Vielleicht hat Vivica Hildreth hier ja ein paar Räume angemietet , ging ihm durch den Kopf. Oder vielleicht benutzte sie den Sitz der Firma ihres Mannes für das Vorstellungsgespräch. Dann jedoch erinnerte er sich an den Wortlaut des Briefs, in dem er ausdrücklich zu ihr »nach Hause« eingeladen wurde.
Ein ziemlich beeindruckendes Zuhause , dachte er, als er die vornehme Lobby betrat. Ein Sicherheitsangestellter trug ihn in eine Liste ein und nahm sogar mit einer Metalldetektor-Handsonde eine Leibesvisitation vor. Reiche Leute litten oft an Paranoia. Als Westmore zum Fahrstuhl ging, erhaschte er durch das Maschendrahtfenster einer Tür den Blick auf die Parkgarage. Ihm fielen ein Rolls-Royce, mehrere Porsches, ein Ferrari sowie etliche protzige Mercedes-Limousinen auf. Als sich die Türen des Lifts öffneten, trat eine Frau heraus und sagte: »Mr. Westmore, tut mir leid, dass ich zu spät komme.«
Er war überrascht. Die kleine, gut gebaute Frau mit dem zurückhaltenden Lächeln hätte in der bauchfreien Bluse aus schwarzem Leder über dem schlichten grauen Rollkragenpulli kaum steifer aussehen können. Komplettiert wurde der Look einer niveauvollen, aber sexy Büroleiterin von einem schwarzen Rock und hohen Absätzen. Perfekt gleichmäßige Stirnfransen, makellos glattes, rötlich-blondes Haar bis zum Ausschnitt kamen hinzu. Sie sah aus wie 40, war jedoch vermutlich erst 30 – die Sonnenbräune Floridas bewirkte so etwas bei Frauen und raute die Haut ein klein wenig auf. Andererseits ließ die beispielhafte Bräune darüber hinwegsehen und verstärkte irgendwie sogar die spröde Attraktivität.
Westmore hatte ein Bild von Vivica Hildreth gesehen. Als er ihre Hand schüttelte, sagte er: »Sie sind nicht ...«
»Nein, ich bin nicht Mrs. Hildreth. Mein Name ist Karen Lovell. Ich bin ... derzeit als Mrs. Hildreths persönliche
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