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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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haben. Es gab nur ein menschliches Wesen, das ihm Schuldgefühle machen durfte, und das war seine Schwester Anna. Er lehnte das Angebot eines Schlafplatzes für die Nacht ab. Stattdessen ging er direkt ins Caravan.
    Während der folgenden Monate begann Sinner immer heftiger zu bedauern, dass es ihm nicht möglich gewesen war, in New York zu bleiben und von der Stadt, die seine Strähne der Unschlagbarkeit beendet hatte, Revanche zu fordern. All der Ruhm, von dem Frink gesprochen hatte: Er wusste, dass er ihn verdiente. Wie hatte er ihm im Laufe eines einzigen Abends für immer verlorengehen können? Er hätte noch immer da draußen sein sollen, aber stattdessen war er zurück in London, wo jede Nacht anders war. Manchmal gabelte er jemanden auf und ging mit ihm in seine Wohnung. Manchmal gabelte er jemanden auf, der für ein Zimmer im Hotel de Paris oder in einem anderen Hotel zahlte. Manchmal schlief er in einem Park, bis die Polizei ihn verscheuchte. Manchmal schlief er bei den Obdachlosen am Ufer der Themse. Manchmal bekam er in einem der 24-Stunden-Kinos beim Leicester Square ein paar Stunden Schlaf, wobei die Wochenschau im Hintergrund ständig wiederholt wurde: Mussolini und King Edward, bis der Platzanweiser ihn mit seiner Stablampe weckte. Manchmal investierte er sogar einen Shilling, um die Nacht im Schlafsaal einer Herberge zu verbringen. Natürlich hatte Sinner Freunde oder doch so etwas Ähnliches wie Freunde – Will Reynolds zum Beispiel, dem das Caravan gehörte –, aber das Problem war, dass er ihre Freundschaft nicht mehr aushalten konnte, wenn er sie um Hilfe bitten musste. Deshalb waren die einzigen Menschen, die er um Geld anhaute, solche, die er nicht leiden konnte, doch obwohl es davon eine Menge gab, gingen ihm bald die Kandidaten aus. Dann gab es noch seine Eltern, aber er war froh darüber, sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen zu haben, und wenn überhaupt, wollte er sie erst wiedersehen, wenn er Weltmeister war, und nicht, während er ohne einen Penny dastand. Da war Albert Kölmel, aber Albert Kölmel wollte man nichts schulden, nicht einmal eine Kleinigkeit. Und da war Frink, aber das kam immer noch nicht infrage. Er wünschte, er könnte Anna treffen, aber er wusste nicht, wo sie war.
    So begann er sich bald nach reichen Schwuchteln umzusehen, die ihm nicht nur ein Bett für die Nacht geben, sondern ihn auch bezahlen würden. Normalerweise waren sie nicht schwer zu finden, obwohl es einmal darin endete, dass er es mit einem teilnahmslosen Dienstmädchen trieb, während ihr Herr in seinem Sessel saß und zusah. Wenn er die Häuser solcher Männer verließ, stahl er oft Bargeld und Schmuck, denn er wusste ja, dass sie nicht zur Polizei gehen würden. Mit dem Geld in der Tasche begann er mehr zu trinken als je zuvor, denn ohne Frink brauchte er nicht einmal für Kämpfe oder das Training nüchtern zu bleiben. Im Großen und Ganzen ging das Leben weiter wie immer, bis ihm eines Nachts im Dezember klar wurde, dass offenbar etwas ziemlich Furchtbares mit ihm geschehen war. Nicht nur, dass sich in ganz Covent Garden keine einzige reiche Schwuchtel fand, die sich auch nur auf ein Gespräch mit ihm eingelassen hätte – er konnte nicht einmal die Türsteher des Caravan überreden, ihn in den Club zu lassen. Tatsache war, dass er sich an kaum etwas erinnern konnte, das zwischen jenem Tag und dem Tag geschehen war, an dem er sich schließlich Tee trinkend im St.   Panteleimon’s Hospital wiederfand.
    Man musste Glück haben, wenn man ein Bett im St.   P’s bekommen wollte, einem der sehr wenigen wohltätigen Krankenhäuser seiner Art in London. Aber es war auch nicht so gedacht, dass man das Bett allzu lange belegte. Jeden Tag wurde die Liege in Sinners Station gerollt, um jemanden zu holen. Gestern Abend war es Ollie Renshaw gewesen, und das war der Grund dafür, dass Sinner das dritte Mal seit Weihnachten hier in der Leichenhalle war. Bei den ersten beiden Versuchen hatte er kein Geld bei den Leichen gefunden, aber Renshaw, dieser Schmock, hatte bestimmt etwas versteckt, und dann konnte Sinner das Krankenhaus verlassen und zum ersten Mal seit Wochen etwas trinken. Zugegeben, das Bedürfnis, etwas zu trinken, schien nicht mehr so heftig zu sein wie früher – in Wahrheit verursachte ihm allein der Gedanke eine leichte Übelkeit –, aber weil er sich die ganze Zeit über tausendmal am Tag etwas zu trinken versprochen hatte, blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig.
    »Ich dachte, ihr

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