Flieh solange du kannst
wollte also wissen, wer in Cedar Rapids auf Preston wartete?
Ganz einfach: Mit etwas Glück würden er und Hector die beiden dort abpassen.
Scheinwerfer kamen ihnen entgegen, und Emma nahm jeden vorbeifahrenden Wagen nur noch mit halbgeöffneten Augenlidern wahr. Max schlief bereits, und Preston saß hinter dem Steuer. Sie hatten in Omaha zu Abend gegessen und waren dann weitergefahren. Inzwischen fuhren sie schon so lange, dass sie jede Beziehung zu Zeit und Orten verloren hatte. Außerdem tobte unentwegt ein einziger Gedanke in ihrem Kopf: Juanita war tot und Manuel hatte sie auf dem Gewissen.
Sie wusste ja, dass mit diesem Mann etwas nicht stimmte, aber dass er so weit gehen würde … Arme Juanita. Emma stellte sich vor, was sie alles hatte erleiden müssen und die Vorstellung machte sie ganz krank. Wie konnte Manuel nur so grausam sein? Diese Frage ging ihr immer wieder durch den Kopf, aber sie fand keine Antwort darauf.
Vielleicht hätte sie bei ihm bleiben sollen, dann wäre Juanita noch am Leben.
Müde und erschöpft strich sie sich mit der Hand über das Gesicht. Aber sie konnte nun einmal nicht bei ihm bleiben. Noch länger bei Manuel zu bleiben, wäre einem Selbstmord auf Raten gleichgekommen. Sie hatte das Recht, ihr Leben so zu führen, wie sie es wollte, oder? Und was war mit Max? Zumindest er verdiente doch ein besseres Leben als das, das Manuel ihm bot.
“Wie ist dein Sohn ums Leben gekommen?”, fragte Emma plötzlich. Sie wollte nicht mehr über ihre eigenen Sorgen nachdenken, sie musste mit jemandem sprechen, auch auf die Gefahr hin, dass sie Preston erneut verärgerte. Sie war es einfach leid, von ihm abgespeist zu werden. Wenn er mit ihr reden, mit ihr zusammen sein und ihr helfen wollte, dann musste er auch zulassen, dass sie sich um seine Angelegenheiten kümmerte.
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, antwortete aber nicht.
“Du willst es mir nicht sagen, stimmt’s?”
“Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man, aber das stimmt leider nicht.”
“Es stimmt aber auch nicht, dass das Leid einfach verschwindet, wenn man es tief in sich begräbt und niemanden ranlässt.”
Preston verzog das Gesicht. “Es macht keinen Sinn, in der Vergangenheit herumzustochern. Hör lieber auf damit. Vergiss es einfach.”
“So wie du es vergessen hast?”
Die Adern an seinem Unterarm traten hervor, als er das Lenkrad fester umklammerte. “Du bist wütend und willst dich jetzt an jemandem abreagieren. Aber ich bin nicht das richtige Ziel dafür.”
“Ja, natürlich bin ich wütend. Eine wunderbare Frau ist ermordet worden, und zwar vom Vater meines Kindes. Ich frage mich natürlich, wie viel Schuld ich daran trage und ob ich es hätte verhindern können. Was habe ich falsch gemacht? Ich war zweiundzwanzig, als ich mich entschieden habe, mit Manuel zusammenzuleben. Wie konnte ich damals wissen, dass er nicht der Mensch war, als der er mir erschien, oder dass er sich so verändern würde? Wie hätte ich wissen können, welche Auswirkungen meine Entscheidung von damals haben würde? Wie konnte ich ahnen, dass dieser Mann mein ganzes Leben zerstört?”
“Es ist hart, aber es geht vielen Leuten so. Man wird auf die Probe gestellt und muss damit klarkommen.”
“Vielen Leuten geht es so. Meinst du damit auch dich selbst?”
“Hör auf damit, Emma!”
“Du möchtest mich doch noch einmal lieben”, flüsterte sie.
Er widersprach nicht.
“Und du möchtest doch, dass ich dabei etwas fühle.”
Auch jetzt widersprach er nicht.
“Aber du hast dich ganz plötzlich vollkommen von mir zurückgezogen.”
Er sah sie nicht an. “Ich kann dir und Max leider nicht das geben, was ihr braucht.”
“Unsinn! Das ist doch nur eine faule Ausrede”, sagte sie. “Du könntest mir all das sehr wohl geben, wenn du nur wolltest. Aber deine Trauer steht zwischen uns, weil du mir nicht erlaubst, sie mit dir zu teilen, und weil du mir nicht erlaubst, dir etwas von dieser schweren Last abzunehmen.”
“Es geht um mehr als nur Trauer, Emma. Lass es gut sein.”
Aber sie wollte jetzt nicht mehr schweigen. Wenn sie jetzt einlenkte, wäre er bald aus ihrem Leben verschwunden. “Erzähl mir endlich, was passiert ist”, beharrte sie.
Er antwortete nicht.
“Wer ist Vincent?”
Ein Muskel an seiner Schläfe zuckte. “Ich werde dich und Max in einer netten Pension unterbringen, und dann werde ich weiterfahren.”
Die Endgültigkeit dieser Aussage überraschte sie – und traf sie viel heftiger, als sie es
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