Flieh solange du kannst
du es wissen sollst, deshalb … Was meinst du denn damit? Mein Gott, hast du Dallas etwa schon völlig vergessen?” In seiner Stimme schwangen Wut, Anklage und andere Gefühle mit. Irgendetwas schien einen tiefen Schmerz in ihm zu wecken. “Ja, natürlich sind wir geschieden. Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht über unseren Sohn sprechen dürfen, oder? Ach, vergiss es. Du hast recht. Ich sollte dich nicht in deinem neuen bequemen Leben mit diesem Bob stören.”
Preston war also einmal verheiratet gewesen. Und im Leben seiner Ex-Frau gab es offensichtlich einen neuen Mann.
“Nein, du hörst jetzt auf damit. Unser Sohn ist tot. Unser toller, großartiger sechsjähriger Sohn, der …” Seine Stimme brach. Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Aber dann fing er sich wieder und sprach weiter, ganz eindeutig von dem Bedürfnis getrieben, seiner Gesprächspartnerin wehzutun. “Ja, scheinbar bist du ja in der Lage, einfach weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, aber ich kann das nicht. Jedenfalls nicht, bevor die Sache abgeschlossen ist … Wie bitte? Was für eine Sache? Das kann ich dir sagen: Ich will Gerechtigkeit!”
Er fügte noch etwas hinzu, aber Emma verstand ihn nicht mehr. Offenbar hatte er sich von der Badezimmertür weggedreht.
“Ich war sein Vater”, sagte er, als sie ihn wieder besser hörte. “Er hat mir vertraut … Wenn das nicht meine Angelegenheit ist, wessen denn sonst? … Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich zulassen werde, dass Vincent einfach so davonkommt … Schön, nenn es doch, wie du willst.”
Emma musste tief durchatmen, als sie begriff, was das alles bedeutete. Preston hatte einen Sohn gehabt – und ihn verloren. Jetzt machte sein eigenartiges Benehmen auf einmal Sinn. Kein Wunder, dass er den Anblick eines kleinen Jungen wie Max nicht ertrug. Er kam nicht über den Tod seines Sohnes hinweg.
Und sie hatte ihm entgegengeschleudert, sie habe noch nie in ihrem Leben einen Menschen getroffen, der Kinder so verabscheue wie er! Aber sie hatte ja nichts davon gewusst, hatte nicht im Traum an so etwas gedacht. Und nun schrak sie zusammen bei dem Gedanken, dass ihr mit Max ein ähnliches Schicksal bevorstand. Um Himmels willen! Es spielte doch gar keine Rolle, ob sie nun gezwungen war, mit Preston Holman zu schlafen. Um zu verhindern, dass jemand ihr Max wegnahm, war jedes Mittel recht.
“Es ist mir egal, was Bob und alle anderen darüber denken”, rief Preston gerade. “Wie viele Helden kennst du denn, Christy? Wann hast du das letzte Mal in der Zeitung von einem Arzt gelesen, der auf wundersame Weise ein Kind geheilt hat?”
Wovon redete er denn da?
“Es geht doch um viel mehr.”
Dann gab es eine längere Pause. Als Preston weitersprach, klang er mutlos. “Ich muss eben tun, was ich tun muss … Okay, warte … Nein, bitte, wein doch nicht. Bitte, Christy! Es tut mir leid.”
Er sagte noch etwas, das Emma wieder nicht verstand, dann legte er auf.
Emma wartete ab, was als Nächstes passierte, aber nichts geschah. Sie hörte keinen Ton mehr. Preston schwieg, und Max schlief friedlich auf seinem Lager. Sie konnte sich nicht entschließen, etwas zu tun und kam sich nach einer Weile feige und dumm vor.
Preston litt also unter einem Verlust, den sie nur allzu gut nachvollziehen konnte. Und er hatte zugestimmt, ihnen zu helfen. Sie vermutete jetzt, dass es weniger mit ihrem Angebot von vorhin zusammenhing. Möglicherweise wusste Preston schon gar nicht mehr, dass sie da war. Aber eine Abmachung sollte man einhalten. Zumindest wollte sie zu ihm gehen und ihn fragen, was er als Gegenleistung erwartete.
Falls er verlangte, dass sie zu ihm ins Bett stieg, würde sie ihr Bewusstsein vom Körper abkoppeln. Darin hatte sie viel Erfahrung. Mit diesem Mann hier zu schlafen konnte auch nicht schlimmer sein, als unter Manuels seltsamen Anwandlungen zu leiden.
Sie seufzte, entschlossen, sich in ihr Schicksal zu fügen. Aber zuerst lieh sie sich Prestons Zahnbürste aus und zog seine Kleider an.
8. KAPITEL
P reston saß im Dunkeln neben dem kleinen runden Tisch vor dem einzigen Fenster und versuchte, die Gedanken an das Telefongespräch mit Christy zu verscheuchen. Wie dumm von ihm, sie anzurufen. Er hätte es auch nicht getan, wenn das Zusammentreffen mit Emma ihn nicht daran erinnert hätte, was sie einmal verbunden hatte – die Familie, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Seit Dallas’ Tod konnten sie sich nicht
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