Flieh solange du kannst
“Nanu, du bist schon wach?”, fragte er.
In diesem Raum war es wesentlich heller, und Preston musste die Augen zusammenkneifen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, sah er, dass die Ringe unter Emmas Augen noch immer so dunkel aussahen wie gestern. Ihre Haare waren verstrubbelt und sie sah aus, als hätte sie eine schlaflose Nacht hinter sich. Sie wirkte müde und überanstrengt. Aber sie sah nicht aus, als hätte sie geweint.
Sogar völlig übernächtigt war Emma noch wunderschön.
“Oh, es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe”, sagte sie. “Ich habe den Fernseher angemacht und nicht darauf geachtet, dass die Lautstärke so hoch eingestellt war. Ich habe selbst einen Schreck bekommen und sie ganz schnell heruntergeschaltet.”
“Ist schon in Ordnung”, sagte Preston mit matter Stimme. Aber trotz seiner Müdigkeit konnte er nicht anders, als die sanften Rundungen ihres Körpers zu registrieren, die sich unter dem T-Shirt abzeichneten, und das sanfte Schaukeln ihrer Brüste, wenn sie sich bewegte. Mit einem Mal fühlte er sich wesentlich wacher.
An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie seinen Blick bemerkt hatte. Also entschloss er sich, etwas mehr Raum zwischen sich und sie zu bringen, und ging zur Minibar, um sich etwas zu trinken zu holen. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er würde etwas von ihr erwarten. Wenn er ihr half, dann nur aus einem einzigen Grund: um sein Gewissen zu beruhigen.
Aber wo war sein Gewissen eben gewesen, als er sich ihren Körper unter dem T-Shirt vorstellte und den Drang verspürte, ihr dieses Kleidungsstück vom Leib zu reißen?
“Kannst du nicht schlafen?”, fragte er.
“Ich hätte im Auto nicht so lange vor mich hindösen sollen.”
Angestrengt suchte er nach einem weiteren Thema für eine Unterhaltung. Er wollte jetzt nicht an Sex denken. Nachdem Max sie letzte Nacht im Motel unterbrochen hatte, war Preston nicht sehr erpicht darauf, dieses Erlebnis zu wiederholen.
Glücklicherweise gab es jede Menge Gesprächsstoff, der ihn von seinen Gefühlen ablenken konnte. “Erzähl mir etwas über Manuel.”
Anfangs wollte Preston überhaupt nichts über Emmas Leben wissen, weil er keine Lust hatte, sich mit ihren Problemen zu belasten. Aber das traf längst nicht mehr zu. Nun waren ihre Probleme zum Teil auch seine, und deshalb wäre es nur gut, wenn er ein wenig mehr über den Mann herausfand, der für diese Schwierigkeiten verantwortlich war.
Emma schaltete die Lautstärke noch weiter herunter und legte die Fernbedienung beiseite. “Was möchtest du denn wissen?”
“Du hast gesagt, dass ihr nicht verheiratet seid.”
“Sind wir auch nicht.”
“Wieso behauptet er das dann?”
“Hast du mit ihm gesprochen?”
“Ich habe ihn ganz kurz gesehen.”
Sie schaute ihn ungläubig an. “Wirklich? Wo denn?”
“Im Hotel Nevada. Er lief da herum und zeigte den Leuten Fotos von dir und Max und behauptete, er suche seine Frau und seinen Sohn.”
“Oh.” Es dauerte eine Weile, bis sie diese Neuigkeiten verdaut hatte. “Und jetzt glaubst du also, ich hätte dich angelogen?”
“Nein.” Preston zog die Tür der Minibar auf und nahm sich eine Flasche Apfelschorle heraus. “Ich habe nur ein bisschen über die Art eurer Beziehung nachgedacht, sonst nichts.”
“Es ist ziemlich kompliziert”, sagte sie und strich sich nervös über die Stirn.
“Das ist immer der Fall, wenn jemand von etwas besessen ist. Normalerweise würde ein Vater zuallererst seinen Sohn zurückhaben wollen, aber Manuel scheint vor allem auf dich fixiert zu sein.”
Schützend zog sie die Beine an und schlang die Arme um die Knie. “Mit kleinen Kindern kann er nicht viel anfangen. Und außerdem gefällt ihm nicht, dass Max alles andere als … perfekt ist.”
Preston drehte den Verschluss der Flasche auf, und die Kohlensäure entwich mit einem Zischen. “Wieso ist Max denn alles andere als perfekt?”
“Weil er Diabetiker ist.”
“Na und? Max ist doch …” Hier hielt er abrupt inne. Er hatte “toll” sagen wollen, aber irgendetwas in ihm sperrte sich dagegen, und er schwächte es ab: “ein guter Junge”, sagte er schließlich und fügte hinzu: “Wie kann man denn von so einem Sohn enttäuscht sein?”
“Manuel hält das für eine Behinderung. Und außerdem liebt er ihn so fanatisch, dass er unbedingt will, dass Max in allem, was er tut, immer der Beste ist.”
“Das klingt eher nach übertriebenem Stolz oder allzu ausgeprägtem Besitzdenken. Und das
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