Flieh Wenn Du Kannst
sie noch lebte. »Ich fühle mich seit einiger Zeit nicht besonders wohl«, fuhr sie fort. »Deshalb bin ich auch noch einmal zu Ihnen gekommen.«
»Was glauben Sie, was ich für Sie tun kann?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber irgend jemand muß etwas tun. Ich glaube nicht, daß ich diesen Zustand noch viel länger ertragen kann.«
»Was für ein Zustand ist das denn?«
»Ich fühle mich schrecklich elend«, antwortete Bonnie. »Mir ist dauernd übel, ich übergebe mich, alles tut mir weh...«
»Waren Sie beim Arzt?«
»Ich bin bei Ihnen.«
»Ich meinte einen Allgemeinmediziner oder Internisten.«
»Ich weiß, was Sie meinten.«
»Ja, das ist mir klar.«
Sie lächelte. »Nein, ich war nicht beim Arzt.«
»Und warum nicht?«
»Weil meine Symptome offensichtlich psychosomatischer Art sind.«
»Tatsächlich? Wie kommen Sie darauf?«
»Dr. Greenspoon«, erwiderte Bonnie, »als ich das letzte Mal bei Ihnen war, haben Sie es doch selbst gesagt. Ich bin eine Frau, die sich in großer seelischer Not befindet und der eine Therapie sehr gut täte. Wenn ich mich recht erinnere, waren das Ihre Worte, und Sie haben recht, wenn ich es auch nur ungern zugebe. In meinem Leben ist in letzter Zeit eine Menge passiert, und das meiste war nicht angenehm. Ich habe das Gefühl, ich erlebe nur Scheiße, bitte entschuldigen Sie den krassen Ausdruck, und werde offensichtlich überhaupt nicht damit fertig. Diese Grippe oder was es sonst ist, ist meiner Ansicht nach lediglich eine körperliche Reaktion auf den ganzen Streß.«
»Das kann schon sein«, meinte Dr. Greenspoon, »aber Sie sollten sich dennoch untersuchen lassen. Wie lange geht es Ihnen denn schon so?«
»Mit Unterbrechungen seit ungefähr zehn Tagen«, antwortete Bonnie.
»Zehn Tage sind zu lang. Sie müssen einen Arzt aufsuchen, damit die Möglichkeit einer Infektion oder einer ernsteren Erkrankung ausgeschlossen werden kann.«
»Aber ich habe nicht mal Fieber«, sagte Bonnie ungeduldig. »Was wird mir denn ein Arzt anderes sagen, als daß ich mich ins Bett legen und viel trinken soll?«
»Warum gehen Sie nicht erst einmal hin und hören, was er sagt?«
»Weil ich weder die Zeit noch die Kraft habe, mich einem Haufen nutzloser Untersuchungen zu unterziehen. Ich weiß doch, daß diese Symptome alle nur in meinem Kopf sind.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich nie krank werde.«
»Das sagten Sie auch schon letztesmal, als Sie hier waren. Ist Krankheit für Sie ein Zeichen von Schwäche?«
»Bitte? Nein. Natürlich nicht. Aber ich hab’ einfach nicht die Zeit, krank zu werden.«
»Aber andere Leute schon?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Wollen Sie sagen, daß Krankheit etwas ist, das man kontrollieren kann?«
»Wollen Sie das Gegenteil sagen?«
»Ich denke, das kommt auf den jeweiligen Fall an«, sagte Dr. Greenspoon. »Ich will nicht behaupten, daß die geistige Einstellung sich nicht auf das körperliche Befinden auswirkt. Aber das heißt noch lange nicht, daß eine positive Einstellung Krebs verhindern kann oder eine negative Einstellung unweigerlich zum baldigen Tod führt. Mein Schwiegervater ist vierundachtzig Jahre alt. Solange ich mich erinnern kann, klagt er über seinen Rücken, seinen Nacken, seine Arthritis. Er ist jetzt seit gut zwanzig Jahren davon überzeugt, daß er in Kürze sterben wird, daß er seinen nächsten Geburtstag, das nächste Jahr, den nächsten Sommer nicht mehr erleben wird. Er hat die pessimistischste Einstellung, die mir je untergekommen ist, aber soll ich Ihnen was sagen? Der Mann wird ewig leben. Er wird noch lange, nachdem wir alle mit unserem grenzenlosen Optimismus und unserem sonnigen Gemüt ins Gras gebissen haben, leben.
Menschen werden nun einmal krank, Bonnie. Es gibt Dinge, die sich unserer Einflußnahme entziehen. Unserer Gesellschaft fällt es schwer, das zu akzeptieren. Weil wir uns dadurch unsicher fühlen. Das Resultat ist, daß es eine Menge schwerkranker Menschen gibt, die sich schuldig fühlen, weil sie glauben, mit einer positiven Einstellung wären sie nicht krank geworden. Aber das ist Quatsch. Das ist in meinen Augen nur ein weiteres Beispiel für die Neigung unserer Gesellschaft, dem Opfer die Schuld zu geben. Wenn wir nämlich glauben, daß das Opfer selbst an seinem Leiden schuld ist, können wir uns einreden, daß uns etwas derartiges nicht passieren kann.
Der menschliche Körper ist nicht unverwundbar. Er ist anfällig für alle Arten von Infektionen und Viren, und diese Anfälligkeit
Weitere Kostenlose Bücher