Fliehe weit und schnell
Abend, er wolle etwas trinken gehen. Man konnte einen Menschen auch nicht hindern, etwas trinken zu gehen, oder? Die beiden Männer waren erwürgt worden, genau wie Laurion, im Abstand von etwa einer Stunde. Mord am Fließband. Dann waren die Leichen, zweifellos beide zusammen, in ein Auto gelegt worden, wo man sie ausgezogen und mit Kohle eingerieben hatte. Schließlich hatte der Mörder sie mitsamt ihren Kleidungsstücken auf offener Straße abgelegt, im 12. Arrondissement, am Rand von Paris. Der Pestbereiter hatte sich nicht dem Risiko ausgesetzt, gesehen zu werden, denn diesmal waren die Leichname nicht christusartig mit ausgebreiteten Armen auf den Rücken gelegt worden. Sie lagen so, wie sie in der Eile fallen gelassen worden waren. Adamsberg vermutete, daß diese Notwendigkeit, auf der letzten Etappe schludern zu müssen, den Mörder verärgert hatte. Es war mitten in der Nacht gewesen, und niemand hatte auch nur das Geringste wahrgenommen. Mit ihren zwei Millionen Einwohnern kann die Hauptstadt unter der Woche um vier Uhr morgens so ausgestorben sein wie ein Bergdorf. Hauptstadt oder nicht, auf dem Boulevard Soult schläft man genau wie in den Pyrenäen.
Die einzige neue Erkenntnis, über die man nun verfügte, war die, daß alle drei Männer über Dreißig waren. Das war nicht gerade ein großer gemeinsamer Nenner. Der Rest der Persönlichkeitsmerkmale paßte absolut nicht zusammen. Im Gegensatz zu dem ersten Opfer hatte Jean Viard sich nicht in den Vorstädten abgerackert. Er kam aus den besten Vierteln, war EDV-Ingenieur und mit einer Rechtsanwältin verheiratet. François Clerc stammte aus einfacheren Verhältnissen, ein schwerer Mann mit breiten Schultern, von Beruf Lieferant im Dienste eines großen Weinhändlers.
Ohne seine Wand zu verlassen, rief Adamsberg den Gerichtsmediziner an, der gerade mit Viards Leiche beschäftigt war. Während man ihn ans Telefon holte, konsultierte Adamsberg sein Notizbuch auf der Suche nach dem Familiennamen des Mannes. Romain.
»Romain, hier ist Adamsberg. Entschuldigen Sie die Störung. Können Sie bestätigen, daß er erdrosselt wurde?«
»Kein Zweifel. Der Mörder hat eine solide Kordel verwendet, vermutlich eine dicke Kunststoffschnur. Es gibt eine ziemlich deutliche Druckstelle im Nacken. Es könnte sich um eine Art Kabelbinder handeln. Da braucht der Mörder nur nach rechts zu ziehen, das erfordert nicht viel Kraft. Er hat übrigens seine Technik verbessert und sich auf Großschlachterei verlegt: Die beiden Opfer haben eine gehörige Ladung Tränengas abbekommen. Bevor sie reagieren konnten, hatte der Mörder ihnen schon die Schlinge übergeworfen. Das ist schnell und sicher.«
»Hatte Laurion Bisse am Körper, Insektenbisse?«
»Verdammt, das hatte ich nicht in den Bericht geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt schien mir das noch nicht wichtig. Er hatte relativ frische Flohbisse in der Leistengegend. Viard ebenfalls, und zwar an der Innenseite des rechten Oberschenkels und am Hals, die Bisse sind schon älteren Datums. Ich habe noch nicht die Zeit gehabt, den letzten zu untersuchen.«
»Können Flöhe einen Toten beißen?«
»Nein, Adamsberg, auf keinen Fall. Sie verlassen ihn bei den ersten Anzeichen des Erkaltens.«
»Danke, Romain. Vergewissern Sie sich, daß kein Bazillus vorhanden ist, genau wie bei Laurion. Man kann nie wissen.«
Adamsberg steckte sein Mobiltelefon ein und legte die Hände über die Augen. Also hatte er sich getäuscht. Der Mörder konnte seinen Umschlag mit den Flöhen nicht zum Zeitpunkt des Mordes hinterlegt haben. Zwischen dem Aussetzen der Flöhe und dem Mord war eine gewisse Zeit vergangen, da die Insekten die Opfer lebend gebissen hatten. In Viards Fall mußte dieser Zeitraum sogar ziemlich lang gewesen sein, da der Gerichtsmediziner erklärt hatte, daß die Bißstellen schon älter seien.
Die Arme auf dem Rücken verschränkt, ging Adamsberg im Zimmer auf und ab. Der Pestbereiter folgte demnach einem ziemlich irrsinnigen Protokoll: Er schob zunächst den geöffneten Umschlag unter den Türen seiner künftigen Opfer hindurch, um dann einige Zeit später mit Holzkohle in der Tasche zurückzukommen, das Schloß aufzubrechen und seine Opfer zu erwürgen. Er arbeitete im Zweiertakt. Erstens, die Flöhe. Zweitens, der Mord. Ganz zu schweigen von den teuflischen Vieren und den Verkündigungsbotschaften. Adamsberg spürte so etwas wie Ohnmacht in sich aufsteigen. Die Wege verschlangen sich, der richtige Weg verlor sich darin, dieser
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