Flirt mit dem Tod
nicht sagen. Die Kugeln stammen aus einer Halbautomatik, vermutlich neun Millimeter. Er wurde hier getötet und nach seinem Tod nicht mehr bewegt. Hinter dem Tresen hängt ein Bild von ihm. Ich nehme an, wir haben es mit Pete Johnson, dem Besitzer des Ladens, zu tun.« Mit ihren behandschuhten Fingern zeigte sie auf ein Foto im Regal hinter der Kasse. »Bei der Jane Doe sieht es etwas anders aus. Sie ist zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig. Die Male an ihrem Hals lassen auf Erwürgen schließen. Sie wurde aber nicht hier getötet. Und nicht heute Nacht. Nach ersten Schätzungen ist sie wahrscheinlich zwischen zwanzig und dreißig Stunden tot. Die Leichenstarre wurde gebrochen – vermutlich beim Transport. Die Leichenflecken deuten auf eine Umlagerung hin. Sie lag zuvor zwar auch auf dem Rücken, aber auf einer anderen Oberfläche. Außerdem waren ihre Handgelenke gefesselt und sie hat Abschürfungen an den Innenseiten der Schenkel. Der Verdacht der Vergewaltigung liegt nahe. Genaueres kann ich dir wie immer erst nach der Obduktion sagen. Nur einer Sache bin ich mir sicher: Dieser Ort hier ist nur der Ablageort, nicht der Tatort.«
»Und was bedeutet das? Jemand hat den Supermarktbesitzer umgebracht und legt dann eine Leiche hier ab, die bereits einen Tag tot ist?«, hakte Elena nach. Sie hatte sich neben Dominic gestellt, ohne auch nur ein Wort der Südstaaten-Pathologin zu versäumen.
Diese blickte auf und sah Elena aus scharfen Augen an. »Und Sie sind?«
»Detective St. James.«
»Ah, die Neue.« Sie warf Dominic einen Blick zu. »Schon von Ihnen gehört. Sie haben ja gestern eine mächtige Show abgeliefert.«
Elena war sich nicht sicher, ob das neugierig oder herablassend gemeint war, also entschied sie sich, die Bemerkung zu ignorieren. Sie hatte zudem genug Probleme damit, trotz der schmerzenden Rippen gerade stehen zu bleiben, da wollte sie nicht auch noch über die Schießerei nachdenken oder gar sprechen.
Die Gerichtsmedizinerin blickte ihr fest in die Augen und setzte noch einmal zu einer Erklärung an. »Ich liefere Ihnen nur die Fakten, Detective. Was diese bedeuten, müssen Sie schon selbst herausfinden.« Damit wandte sie sich wieder dem Opfer zu.
Elenas Blick glitt über die geöffnete Kasse. Sie war leer. Ansonsten war in dem Verkaufsraum nichts zerstört, verwüstet, und auf den ersten Blick nichts entwendet worden.
Vorsichtig trat sie ins Hinterzimmer. Dominic folgte ihr und spähte ihr über die Schulter. Auch hier wirkte alles ordentlich und aufgeräumt. Der Tresor, der hinter der Tür in die Wand eingelassen war, war allerdings geöffnet und leer.
»Komische Geschichte«, sagte er nachdenklich. »Lass uns mit den Angestellten reden.«
*
Dominic maß Donny Reynolds mit einem Blick. Der Zwanzigjährige war mit seinen Nerven am Ende. Er wirkte wie einer der Jungen, die davon träumten, aus ihrer staubigen kleinen Heimatstadt im Mittleren Westen zu entkommen, indem sie eines der begehrten Stipendien für ein Bostoner College ergatterten. In der Großstadt angekommen, stellten sie schnell fest, dass ihr Geld nicht einmal reichte, um das erste Collegejahr zu überstehen. Ihre Träume zerplatzten wie Seifenblasen – und sie machten sich auf die Suche nach Jobs, die ihnen halfen, sich über Wasser zu halten. Sie brachten nicht einmal mehr ansatzweise genug Zeit und Energie für ihr Studium auf, vermieden es aber, darüber nachzudenken.
Eine Geschichte – tausendmal gehört, dachte Dominic. Donny Reynolds schien genau in diese Gruppe Studenten zu passen.
Und nun stand er, in der morgendlichen Kälte zitternd, vor ihnen und dachte vermutlich darüber nach, wie er sich schnellstmöglich einen neuen Job besorgte. Diese Gedanken würden den Jungen noch eine Weile beschäftigen und die Grausamkeit seiner Entdeckung ausblenden. Spätestens in der Nacht würde das Geschehene ihn aber einholen und ihm Albträume bescheren.
Elena und er hatten sich mit Donny in eine ruhige Ecke neben dem Laden zurückgezogen. Die Lichter der Streifenwagen am Straßenrand zuckten über ihre Gesichter und der Gestank aus dem großen Müllcontainer drehte ihnen den Magen um. Donny beobachtete sie und versuchte wahrscheinlich, ihre Gedanken zu lesen. Er schluckte mit zuckendem Kehlkopf und der Puls an seiner Halsschlagader raste sichtlich.
Einen Moment musterte Dominic ihn noch scharf. »Was ist Ihre Aufgabe bei diesem Job?« Mit dem Kinn nickte er in Richtung Supermarkt.
Donny atmete tief durch.
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