Flirtverdacht Roman
abgenommen hätte. Sie alle hätten mir gesagt, dass ich voreilig handelte und überreagierte und dass ich mir etwas Zeit nehmen sollte, um alles gründlich zu überdenken, bevor ich nach Europa zog. Aber ich hatte mein ganzes Leben lang immer alles bedacht. Jetzt wollte ich einmal etwas tun, ohne vorher darüber nachgegrübelt zu haben. Jetzt wollte ich mich einmal von meinen Gefühlen leiten lassen, nicht von meinem Kopf.
Und wenn ich sie aus Paris anrief, war es zu spät, um mich noch zum Bleiben zu überreden.
Kaum waren wir am Flughafen Charles de Gaulle gelandet, überkam mich eine überwältigende Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung. Paris war schon immer meine absolute Lieblingsstadt gewesen, und das Stadtbild, Geräusche und Gerüche trösteten mich sofort. Alles war ganz anders als Los Angeles. Die Kultur, die Sprache, die Atmosphäre. Aber je fremdartiger, desto besser, fand ich.
Ich entwickelte rasch einen neuen Tagesablauf. Nachdem mein Dad morgens zur Arbeit gegangen war, zog ich mich an und schlenderte in das Café an der Ecke, wo ich mir einen thé au lait und eine Brioche gönnte und mit Pierre plauderte, dem freundlichen Kellner, der vormittags Dienst hatte. Dann schaltete ich mein iPod ein und lief einfach los. Ich nahm mir nie ein bestimmtes Ziel vor. Ich sah kein einziges Mal auf eine Karte. Ich ging einfach los, bis ich nicht mehr laufen wollte. Und dann fand ich zurück, indem ich mich am Eiffelturm orientierte.
Manchmal war ich nur zehn Minuten unterwegs, manchmal ein paar Stunden. Es ist unglaublich, wie Paris einen gefangennehmen kann. Man hat das Gefühl, man könnte ewig bleiben und restlos glücklich sein. Keine andere Stadt der Welt hat diese Wirkung auf mich. Und je länger ich lief, desto fester war ich davon überzeugt, dass ich eines Tages wieder glücklich sein würde. Vermutlich bezeichnet man deshalb Paris auch als »magische Stadt«.
Die ersten paar Wochen vergingen wie im Flug. Mein Vater und ich gingen fast jeden Abend zusammen essen und besichtigten an den Wochenenden Sehenswürdigkeiten, zum Beispiel Versailles, den Mont-Saint-Michel und die dunklen, muffigen Champagnerkeller von Reims, in denen die edelsten Champagner der Welt heranreifen. Wir unterhielten uns über alles, von Religion über Politik bis hin zu Kultur, ja sogar über Beziehungen. Es gab keine Tabus mehr. Keine heiklen Themen, die man umgehen musste. Unser Verhältnis war echt, ungeschminkt und authentisch. Die Art von Vater-Tochter-Beziehung, die ich bei anderen oft mitbekommen hatte, von der ich mir aber nie hätte träumen lassen, dass ich sie selbst einmal erleben würde.
Die Stadt schien mich mit offenen Armen zu empfangen. Als sei ich ein lange verschollener, verwundeter Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrte, und Paris die liebenswürdige, herzensgute Frau, die mich aufnahm, mir ein Dach über dem Kopf und Nahrung gab, bis ich wiederhergestellt war. Und schon bald verblassten die Erinnerungen an Ashlyn, die Agentur und alles, was dort geschehen war, vor der Kulisse aus Menschen, Verkehr und französischen Sirenen.
Doch mein Problem bestand nicht darin, dass ich meine Arbeit nicht vergessen konnte. Diese Erinnerungen ver schwanden rasch, ohne dass ich mich dagegen wehrte. Das Problem war Jamie. Er war überall. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt, in den wunderschönen Bauwerken, an denen ich bei meinen morgendlichen Spaziergängen vorbeikam, direkt neben mir beim Frühstück im Café. Die Erinnerung an unsere gemeinsame Reise hierher vor nur einem Jahr war noch so frisch, als sei es erst gestern gewesen. Und wenn ich die Orte sah, die wir gemeinsam besichtigt hat ten – wenn ich direkt davor stand oder gar durch sie hindurch ging –, wurde alles noch viel schlimmer. Obgleich es mir ansonsten so gut gelang, einen Schlussstrich zu ziehen, rissen die Wunden, die Jamie hinterlassen hatte, jeden Tag, mit jedem Schritt, aufs Neue auf. Als würde jemand ständig die Fäden herausziehen, die sie zusammenhalten sollten. Und jeden Abend musste ich feststellen, dass ich schon wieder blutete.
Sophie und ich schrieben uns oft E-Mails, obwohl sie geschworen hatte, mir niemals zu verzeihen, dass ich ohne jede Vorwarnung ins Ausland geflüchtet war. In jeder Mail fragte sie mich, wie lange ich noch bleiben würde, und ich antwortete immer wieder das Gleiche: »Ich weiß es nicht. Vermutlich so lange wie nötig.«
Johns Nachrichten enthielten weitschweifige Berichte über den neuesten Tratsch aus
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