Flitterwochen
etwas orientierungslos durch das große Haus. Von irgendwoher hören wir Musik, na ja, es sind mehr wummernde Bässe, aber immerhin ein Zeichen von Leben. Wir tapsen im Erdgeschoss durch einen stockdunklen Flur, die Bässe werden lauter und lauter, und plötzlich stehen wir in einem großen, schummrig rot beleuchteten Raum.
Links ist eine Bühne, auf der sich eine halbnackte, falsche Blondine gelangweilt um eine Stange wickelt. Vor ihr sitzt an einem der wenigen Tische ein einsamer Mann, der von der künstlerischen Darbietung so fasziniert zu sein scheint, dass er uns überhaupt nicht bemerkt. Rechts befindet sich eine Bar, hinter der unsere Wirtin steht. Die hat sich inzwischen umgezogen und trägt eine knallrote Korsage nebst schwarzen Strapsen, vermutlich ihre Arbeitskleidung. Sie winkt uns zu und bedeutet uns, an einem der Tische Platz zu nehmen. Dann bringt sie uns einen großen Teller mit heißen Würstchen und knallt noch ein Glas Senf auf den Tisch. »Lassense sich’s schmecken. Noch wat zu trinken?«
Jan bestellt, ohne mich zu fragen, drei Bier und eine Flasche Wasser. Mir soll’s recht sein, ich habe einen Mordshunger und im Moment eh nur Augen für die Würstchen. Auch Oma Strelow hat einen gesegneten Appetit. Schweigend mümmeln wir vor uns hin – die Musik ist so laut, dass sich eine Unterhaltung erübrigt – und beobachten die Darbietung auf der Bühne. Nur Jan schaut angestrengt in die Gegenrichtung.
»Das arme Kind«, ruft Oma Strelow unvermittelt. »Sie friert doch bestimmt. Wir haben ja erst April.«
Nach den Würstchen und zwei weiteren Bieren bin ich hundemüde.
»Wir sollten schlafen gehen«, entscheide ich. »Morgen wird bestimmt auch ein langer Tag.«
Jan nickt, so richtig fit sieht er auch nicht mehr aus.
Also verlassen wir die Bar, die sich inzwischen etwas gefüllt hat, und bringen Oma ins Bett, der es nach dem Essen wieder sichtlich bessergeht. Jan zieht ihr fürsorglich die Schuhe aus und deckt sie zu.
»Was es nicht alles gibt«, murmelt sie und krallt sich beim Einschlafen fest an ihre Plastiktüte, in der mittlerweile auch die kleine Urne gelandet ist. »Was es nicht alles gibt. Wenn das mein Heinzi wüsste …«
Als wir die Tür hinter uns geschlossen haben, stehen Jan und ich uns im Flur etwas unbeholfen gegenüber.
»Gute Nacht«, sage ich kurz entschlossen. »Schlaf schön.« Und bevor er antworten kann, schlüpfe ich in mein Zimmer. Keine fünf Minuten später schmeiße ich mich in Unterwäsche aufs Bett. Ein Vermögen würde ich jetzt für eine Zahnbürste geben. Und für Zahnpasta. Und Seife. Und meine Gesichtscreme. Ein Deo wäre auch nicht schlecht.
In diesem Moment vermisse ich Alex ganz schrecklich. Vielleicht rufe ich ihn doch mal an. Auch wenn er vorhin so doof reagiert hat. Aber bestimmt stand er unter Schock und wusste gar nicht, was er sagt. Ist ja auch nicht schön, wenn die eigene Frau plötzlich zur Fahndung ausgeschrieben ist. Der Ärmste! Es wäre sicher nicht schlecht, ihn schon mal behutsam darauf vorzubereiten, dass sich der Beginn unserer Flitterwochen unter Umständen geringfügig verzögern wird. Vielleicht sollte Alex sicherheitshalber schon mal nach einem anderen Flug Ausschau halten? Ich würde jetzt so gerne seine Stimme hören, traue mich aber nicht, mein Handy einzuschalten, weil das
Waldschlösschen
dann bestimmt heute Nacht von einem Sondereinsatzkommando umstellt wird und ich von vermummten Gestalten aus dem Bett gezerrt und auf den Boden geworfen werde, und das fehlte gerade noch.
Während ich das grün-rote Blinken an der schäbigen Tapete beobachte – mein Zimmer liegt direkt über der Leuchtreklame – und noch denke, dass ich bei diesem Licht garantiert nicht schlafen kann, bin ich auch schon eingeschlummert.
»Gerda ist weg!«
Krachend knallt meine Zimmertür gegen die Wand, und Jan stürzt herein.
Eben noch hatte ich geträumt, wie ich Hand in Hand mit Alex einen schneeweißen Strand entlanglaufe und das türkisfarbene Meer unsere Füße umspielt, jetzt sitze ich kerzengerade im Bett. Hallo wach!
»Wer um Himmels willen ist Gerda?«
»Mensch, Oma Strelow! Die heißt mit Vornamen Gerda«, keucht Jan völlig außer Atem.
»Und was heißt weg?«
»In ihrem Zimmer ist sie nicht, und ich hab schon das ganze Haus nach ihr abgesucht. Die ist weg, einfach weg!« Jan macht einen ziemlich verzweifelten Eindruck, er scheint sich wirklich Sorgen zu machen. Tatsächlich wäre es nicht gut, wenn Oma weg ist, überlege ich.
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