Flowertown - Die Sperrzone
froh, dass er fortging. Ihre Freundschaft war kompliziert, und sie wusste, dass das zu einem großen Teil an ihrer dornigen Persönlichkeit lag.
Endlich war sie einen Moment lang alleine. Sie zog die Akten unter dem Kissen hervor und wickelte sie aus dem Zeitungspapier. Sie legte sie auf ihre gekreuzten Beine und starrte auf die einfachen braunen Einbände. Diese Akten konnten ihr eine Menge Ärger bereiten. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich nur um alte Anforderungen für Toilettenpapier handelte – die Tatsache, dass sie sie nur wenige Stunden, bevor das Gebäude in die Luft flog, gestohlen hatte, machte sie gefährlich.
Um sich mutiger zu fühlen, atmete Ellie einmal tief ein, schlug die erste Akte auf und begann zu lesen. Zumindest versuchte sie es. Auf der ersten Seite standen fast ausschließlich Codes und Abkürzungen, lange Buchstabenreihen, mit denen sie nichts anfangen konnte. Als sie durch die Seiten blätterte, fielen ihr am Seitenrand mit dem Füller geschriebene Notizen auf. Außerdem sah sie, dass stellenweise große Passagen mit Tinte geschwärzt worden waren, und sie entdeckte lange Listen mit Daten und Uhrzeiten. Darauf konnte sie sich gar keinen Reim machen, und langsam aber sicher kam sie sich sehr dumm vor, dass sie für diesen Buchstabensalat ihre Sicherheit riskiert hatte. Dieses Gefühl änderte sich, als sie einige Seiten später auf das Foto eines alten Mannes stieß.
Es handelte sich um ein Ausweisfoto aus Flowertown. Von jedem Lagerbewohner war ein solches Foto archiviert. Meistens waren die Aufnahmen gemacht worden, als die Einwohner sehr krank waren, und das traf auch auf dieses Foto in der Akte zu. Selbst auf dem schwarz-weißen Bild konnte man sehen,dass die Gesichtsfarbe des Mannes sehr ungesund aussah. Seine Augen waren blutunterlaufen, seine Haut hing ihm schlaff und wie Pergamentpapier von den Knochen. Aber was Ellie am meisten berührte, war der verdutzte und verängstigte Ausdruck in seinen Augen. Sie kannte den Mann. Bing hatte unrecht, sie wegen ihrer Unaufmerksamkeit zu necken. Sie besaß ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Sie überflog den Bericht. Marvin Delmuth.
Sie erinnerte sich an Marvin. Ihm hatte das Eisenwarengeschäft unterhalb ihres Fensters gehört. Ellie schloss die Augen, als sie sich daran erinnerte, wie sie, nachdem ihre Fixierungen endlich entfernt worden waren, immer an der Fensterscheibe lehnte und auf die Straße hinausstarrte. Drei Stunden pro Tag durfte sie dort stehen und den Arbeitern dabei zusehen, wie sie Flowertown aus dem Boden stampften.
Anfangs schlief sie selbst im Stehen ein, so sehr setzten die Medikamente ihrem Körper zu, aber nach und nach gab man ihr weniger Medikamente, und sie durfte mehr Zeit alleine verbringen. Am liebsten verbrachte sie diese freien Stunden damit, die Leute auf der Straße unter ihr zu beobachten. Jeden Tag stand sie am Fenster, und jeden Tag trat ein Mann nach draußen, brachte den Müll weg, fegte den Bürgersteig vor seinem Laden, sah zu ihrem Fenster empor und winkte. Meistens trug er Hosen mit Schottenmuster.
In den ersten Monaten winkte sie nicht zurück. Sie begriff ja kaum, was sich vor ihren Augen abspielte. Aber eines Tages erkannte sie die Geste wieder und winkte zurück. Bis zum heutigen Tag, trotz all der Drogen, die sie im Lauf der Zeit konsumiert hatte, konnte sie sich an die schiefen, gelben Zähne erinnern, die Marvin entblößte, wenn er sie anlächelte und ihrzuwinkte. Als man Ost Fünf schließlich aufsperrte, strömten die meisten Insassen schnurstracks zu ihren Angehörigen. Aber Ellie hatte niemandem, zu dem sie hätte gehen können. Also setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe vor dem Gebäude und wartete darauf, dass der kleine Mann auftauchen würde. Er leerte den Müll, fegte den Bürgersteig und blickte nach oben zu ihrem Fenster. Ellie konnte sehen, wie sein Gesicht erschrocken zusammenfiel. Dann blickte er nach unten und sah sie auf der Treppe sitzen. Sein Lächeln kehrte zurück.
»Hast dich wohl entschieden, etwas frische Luft zu schnappen, ja? Es ist ein guter Tag dafür.«
Mehr sagte er nicht. Weder blickte er sie beunruhigt an, noch gab er irgendwie zu erkennen, dass er wusste, dass sie zwei Jahre lang in einer Anstalt eingesperrt gewesen war. Ein fröhliches Winken und ein freundliches Wort auf den Lippen, das war Marvin Delmuth.
»Ach du meine Güte, was ist denn los?« Rachel saß auf dem Bettrand, ihre Haare waren in ein Handtuch gewickelt. »Du
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