Fluch der 100 Pforten
Ramoth-Gilead. Dort fand man ihn.«
Henrietta versuchte sich auf dem Pferd herumzudrehen. Es gelang ihr aber nicht, Caleb ins Gesicht zu sehen. »Glaubst du das?«
Caleb lachte. »Ich weiß nicht. Aber selbst wenn ich ihn mitten auf der Straße liegen sehen würde, würde ich ihn niemals anfassen aus Angst, niedergestreckt zu werden.«
»Aber Großvater hat ihn angefasst?«, fragte Henrietta.
Caleb zügelte das Pferd und Henriettas Körper entspannte sich. Auch wenn sie davon ausging, dass es nicht lange anhalten würde. Sie waren auf einer Lichtung in einem Hain aus kleineren Bäumen, die bereits abstarben. Ein Baum in der Mitte ragte über die anderen hinaus. Er war noch grün. Einen Augenblick später erschien der Hund. Er ließ sich auf den Boden fallen und hechelte.
»Reitet weiter«, sagte Caleb zu den anderen. »Wir holen euch später wieder ein.«
Die Männer ritten weiter. Caleb glitt seitlich von seinem Fuchs herunter. Er befahl Henrietta sitzen zu bleiben und ging auf den großen Baum in der Mitte zu. Henrietta bemerkte, dass er kein bisschen erschöpft aussah. Als er vor dem Baum stand, legte er die Hände an die Rinde und sah ins Geäst hinauf. Henrietta konnte seine Stimme hören, wenn auch nur leise. Aber es klang, als sänge er. Dann trat er zurück und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Es hatte eine gerade Klinge und einen silbernen Griff, der mit schwarzem Leder umwickelt war. Plötzlich holte er mit unglaublicher Kraft aus. Henrietta zuckte auf dem Rücken des Pferdes zusammen. Caleb rammte sein Messer in den Baum, sodass sich die Klinge tief ins Holz grub. Dann ließ er das Messer stecken, wandte sich um und ging zurück zu Henrietta und dem Pferd.
»Lässt du dein Messer etwa hier?«
»Ja«, antwortete Caleb und schwang sich hinter sie in den Sattel. »Der Baum ist ein Zeichen, das von meinen Vätern errichtet wurde. Ich will ihn nicht durch die, die sie gehasst haben, vertrocknen sehen.«
»Hast du da irgendwie etwas Magisches gemacht?«, wollte Henrietta wissen.
Das Pferd setzte sich wieder in Bewegung. Henrietta konnte ihren Blick nicht von dem Messer lösen.
»Manche nennen es Magie«, bestätigte Caleb. »Aber nur, weil sie selbst diese Kunst nicht beherrschen.«
»Was hast du denn gemacht?«
»Ich habe ihm gesagt, er solle sich nicht täuschen lassen und seine Kraft nicht fortgeben.«
Henrietta wischte sich ein paar dicke Tropfen aus dem Gesicht und strich sich das Haar hinter die Ohren. Es fühlte sich verschwitzt an. Sie hätte dringend eine Dusche gebraucht. »Warum hast du das Messer hineingerammt?«
»Damit er nicht einschläft. Jetzt ist er wach. So wach, wie ein Baum sein kann.«
Das Pferd fiel wieder in einen leichten Trab. Sie ließen das Wäldchen hinter sich.
»Hast du gesungen?«, wollte Henrietta wissen.
»Sozusagen. Ich habe auf eine bestimmte Weise gesprochen, damit er zuhört.«
»Woher kannst du das?«
Caleb war nicht bei der Sache. Mittlerweile lagen noch mehr tote Tiere auf dem Boden − auch größere. Eine Wildkatzenart, die einem Skunk ähnelte. Und ein Stück weiter begegneten sie dem ersten toten Dachs.
»Mein Vater hat es mir beigebracht«, sagte Caleb schließlich. »Er konnte noch ganz andere Dinge. Aber ein bisschen habe ich auch gelernt.«
»Was konnte er denn?«
Hinter sich hörte Henrietta etwas rascheln. Caleb hatte einen Pfeil aus seinem Köcher gezogen.
»Zum Beispiel hätte er vor dieser Plage nicht fliehen müssen. Er hätte sich ihr entgegengestellt und die Welt um ihn herum aufgerufen, es ihm gleichzutun. Er wäre geradewegs darauf zugegangen und hätte nach der Quelle des Übels gesucht und das Grün wäre ihm gefolgt.«
»Und wir können das nicht?«, fragte Henrietta.
»Wir können das nicht«, bestätigte Caleb.
An Henriettas Seite hielt Caleb in der linken Hand den Bogen und hatte mit einem Finger bereits einen Pfeil im Anschlag.
»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Henrietta.
Caleb antwortete zögerlich, abgelenkt. »Es stimmt überhaupt nichts. Oder vielleicht auch nur eine Kleinigkeit. Wir werden sehen.«
Die Bäume wurden jetzt spärlicher und der Boden felsiger. Caleb trieb das Pferd ein wenig an und ließ es sich seinen eigenen Weg suchen. Von den übrigen Reitern konnten sie die letzten gerade über eine kleine Anhöhe hinweg verschwinden sehen. Der Hund war schon vorneweg gelaufen.
Plötzlich fühlte Henrietta Calebs schützenden Arm nicht mehr um sich.
Das Wiehern eines Pferdes gellte von der Seite
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