Fluch der 100 Pforten
sagte Caleb ihr ins Ohr. »Schon vor einer ganzen Weile. Vielleicht siehst du sie irgendwann wieder. Aber jetzt konzentriere dich darauf, den Atem anzuhalten. Wenn dir schwindelig wird, stößt du einen kurzen Schrei aus und hältst dich am Hals des Pferdes fest. Du darfst auf keinen Fall stürzen.«
Henrietta nickte.
»Sei standhaft«, sagte Caleb. »Standhaft und stur wie ein Esel.«
Henrietta biss die Zähne zusammen und krallte sich tiefer in die Pferdemähne. Stur – das konnte sie sein!
Caleb fuhr fort, und was er sagte, klang wie eine Zauberformel: »Dein Leben ist dein Leben, deine Kraft ist deine Kraft, aber du wirst sie verlieren, wenn du sie für dich behältst.
Nutze sie zum Nutzen anderer. Wozu sonst ist sie dir gegeben? Lass sie nicht in die Klauen der Dämonin geraten. Atme nicht.« Er sprach noch weiter, aber nun verstand Henrietta ihn nicht mehr. Seine Worte waren nicht mehr an sie gerichtet.
Vor ihnen klaffte das Tor. Das Pferd verlangsamte sein Tempo, aber nur ein wenig, und Caleb lenkte es hinein. Henrietta hielt den Atem an und ritt mit weit geöffneten Augen in die tödliche, drangvolle Dunkelheit.
Im nächsten Moment spürte sie den Sog. Er fühlte sich an wie ein Haken, der sich an ihre Eingeweide klammerte und hinausgezogen wurde. Sie wollte nach Luft ringen, aber ihre Atmung versagte. Die Hufe ihres Pferdes schlugen Funken auf dem Felsboden, und hinter sich hörte sie die anderen trappeln. Sie hätte Luft holen wollen, konnte aber ihren Mund nicht öffnen. Sie wollte es auch nicht. Wenn sie es getan hätte, wäre etwas herausgeschlüpft. Etwas sehr Wichtiges. Ihre Haut begann zu spannen und fühlte sich an, als wollte sie reißen. Sie befanden sich in einem weiten, im Rund angelegten Raum, einem Vieleck, an dessen Wänden Portale eingelassen waren. Aus manchen schimmerte ein schwaches Licht. In der Dunkelheit lief Calebs Fuchs auf eines der Portale zu, aber Caleb lenkte das Tier ein wenig zur Seite, zu einem anderen Portal. Henrietta spürte, wie ihre Augen sie zum ersten Portal ziehen wollten, ebenso ihr Gehör …
Sie öffnete den Mund, um Luft zu holen, und augenblicklich erfüllte sie Übelkeit. Ihr Innerstes kehrte sich nach außen. Sie rutschte seitlich weg, begann vom Pferd zu gleiten.
Aber eine starke Hand schloss sich von hinten über ihrem Mund und zog sie wieder hinauf. Sie wurde an Calebs Brust gepresst. Ihre Augen brannten, als sie sie schloss.
Mit einem Poltern fiel hinter ihnen etwas zu Boden, und dann hatten sie es geschafft, gelangten ins Freie, in Regen und tosenden Donner.
Henrietta richtete sie sich auf und merkte, dass sie weinte.
Caleb hatte sein Pferd gewendet und sah, wie die anderen Reiter herauskamen. Der erste. Er hustete. Der zweite. Unversehrt. Nummer drei. Mit einem Stolpern kam das Pferd aus dem Tor heraus. Auf seinem Rücken saß Eli. Das Pferd machte ein paar unsichere Schritte zur Seite und fiel dann mit zuckenden Beinen zu Boden. Eli rollte weg, in ein dichtes Gebüsch hinein.
»Steh auf, Eli!«, schrie Caleb. Der Regen und der Donner übertönten seine Worte.
Der Fuchs lief zu Eli hinüber und Caleb glitt hinab.
Bevor Henrietta begriff, was vor sich ging, stand Caleb auf dem Boden und hatte Eli hinter Henrietta auf das Pferd gehievt. Drei weitere Pferde preschten in den Regen hinaus. Ein viertes trug einen zusammengesackten Reiter auf dem Rücken, der zu Boden fiel. Danach blieb alles still.
Caleb reckte sich und schlug Henrietta ins Gesicht.
»Komm zu dir!«, schrie er. »Halt dich fest! Eli, bring sie zu dem Haus, das du als das Haus meiner Mutter kennst. Halt sie gut fest. Und wage es nicht, mein Vertrauen zu missbrauchen!«
»Warte!«, rief Henrietta. »Wo willst du hin? Lass uns nicht allein!«
»Reitet los!«, schrie Caleb. »Die Zauberer waren uns voraus. Da oben, auf dem Berg!« Er deutete in die Höhe. Am oberen Ende eines lang gezogenen Hanges, klaffte zwischen Felsbrocken eine Höhle. Durch das Unwetter und den Regen konnte Henrietta zunächst nichts erkennen. Aber dann sah sie Kutten, dunkle Kutten, die sich den Berg hinab auf das Tor zu bewegten. »Sie kommen! Macht, dass ihr wegkommt!« Caleb versetzte dem Pferd einen Klaps und Henrietta spürte, wie es sich unter ihr anspannte. Nun aber saß kein starker Mann mehr hinter ihr, der sie halten konnte. Sie klammerte sich so gut es ging fest und war dennoch unsicher. Caleb lief zu dem Mann, der am Boden lag. Er hatte seinen Bogen bei sich. Ein Pfeil stak noch immer in der
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