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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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geschlossen.
    »Guten Morgen«, sagte eine Frau. Ihre Stimme klang sanft. Sie ging an Henriettas kleiner Lampe vorbei zu einer dunklen Wand. Dort schob sie die Vorhänge zurück.
    Drei große Fenster, die alle aus dicken, flaschenbodenartig gedrehten braunen Glasscheibchen zusammengesetzt waren, ließen das graue Licht des Unwetters herein. Draußen rann das Wasser herab und folgte den Spiralen im Glas.
    Die Frau drehte sich um und sah Henry an. Sie war sehr groß. Ihr Haar war pechschwarz und nur hier und da von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Sie trug eine schwere Schürze, die mit etwas befleckt war, das möglicherweise Blut war. Henry kümmerte es nicht, was sie anhatte. Er konnte seinen Blick nicht von ihrem Gesicht und ihren Augen lösen. Sie hatte auffallend graue Augen.
    »Eigentlich hatte ich dir beim Schlafen zusehen wollen«, sagte sie und ihre Stimme klang ein bisschen traurig. »Die anderen können sich eine Weile um die Verletzten kümmern.«
    Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Henrys Bett. Sie war sehr schön und sehr müde. Ihre Augen waren äußerst tiefgründig, ihre Stimme, ihre Bewegungen, alles war
erfüllt von einer zögerlichen, unglaublichen Freude. Einer Freude trotz Trauer. Einer Freude, die aus Trauer erwuchs.
    Sie hob ihren schlanken Arm und strich Henry das Haar aus der Stirn, um ihm in die Augen sehen zu können. Ihre Berührung fühlte sich kühl an.
    »Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie.
    Henry nickte. Er öffnete den Mund. Dann schluckte er.
    Das Leuchten in ihren Augen gab ihm Antwort und ihre Hand glitt zu seiner Wange herab. Mit einem Finger ertastete sie seine Verbrennungen. Henry sah, wie ein Schmerz über ihr Gesicht zuckte, aber sie zog ihre Hand nicht weg. Sie ließ ihre kühlen Finger auf der Stelle ruhen, und er fühlte, wie die Nervosität und die Angst von ihm abfielen und wie an ihre Stelle etwas trat, das er nicht kannte.
    Er sah, dass sich die Augen seiner Mutter langsam mit Tränen füllten. Sie quollen über und liefen ihre Wangen herab. Aber sie wischte sie nicht weg. Seine eigenen Augen begannen nun ebenfalls zu brennen.
    »Als ihr damals weggingt, hattest du noch keinen Namen«, sagte sie. »Dein Vater nahm dich mit, um alles für den Namen vorzubereiten, den wir für dich ausgesucht hatten. Er sollte dich prägen.«
    Henry wischte sich über die Wangen. »Wie lautete er denn?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn nicht aussprechen«, sagte sie. »Er wäre eine Bürde, wenn ich ihn dir jetzt verraten würde. Ich will dich nicht mit etwas belasten, das seit langer Zeit vergessen und begraben ist. Wir wussten ja nicht, wozu du ausersehen warst. Für uns warst du nur ein strampelndes, vergnügtes Kind, das schon im Mutterleib hüpfte, wenn die
Stimme seines Vaters erklang, und das unter den Küssen seiner Geschwister schrie.«
    Sie nahm seine rechte Hand und betrachtete seine Handfläche. Im selben Moment sah sie wieder auf und lächelte.
    »Dein Blut ist grün und golden«, sagte sie, »mit der Kraft des Löwenzahns.« Sie erhob sich. »Und seine Kraft ist sein Lachen, denn es gibt nichts, was er fürchtet.«
    »Ich bin aber ganz anders«, wandte Henry ein.
    Hyazinth beugte sich herab und schloss ihren Sohn fest in die Arme. Und Henry wusste, dass sie niemals wirklich losgelassen hatten.
    »Doch, genauso bist du«, sagte sie. »Für die, die in der Lage sind, zu sehen.«
    Sie drückte ihm einen Kuss auf die eine Wange und dann auf die andere. Danach richtete sie sich wieder auf.
    »Ich muss gehen. Aber ich komme bald wieder. Deine Geschwister können es kaum erwarten, dich zu sehen.«
    »Jetzt sofort?«, fragte er.
    Hyazinth lächelte erneut, aber Henry spürte genau, wie traurig sie war. »Vielleicht bleibt keine andere Zeit.«
    Sie stand jetzt an der Tür und sah noch einmal zu ihm zurück.
    »Wieso bist du dir so sicher?«, fragte Henry schnell. »Ich meine, woher weißt du, dass ich dein Sohn bin?«
    »Ich weiß es, weil ich deine Mutter bin«, antwortete sie. »Und weil du die Seele deines Vaters hast.«
    Sie öffnete die Tür. »Und seine Nase«, fügte sie hinzu.
    »Werde ich die Taufe erhalten?«, wollte Henry wissen.
    Überrascht blieb sie stehen. »So schnell?«

    Er antwortete nicht.
    Ihre Augen leuchteten auf. »Ja«, sagte sie. »Heute Abend. Selbst wenn das Meer uns verschlingt und wir die Zauberer zu Gast haben − ich werde ein Tauffest für meinen Sohn ausrichten. Und wir werden mit dem Löwenzahn um die Wette

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