Fluch der 100 Pforten
lachen.«
Nachdem sie gegangen war, schwang Henry seine Beine aus dem Bett. Er warf einen kurzen Blick auf die Leinenhosen, mit denen er nicht unbedingt gerechnet hatte, und reckte sich vorsichtig. Er war nicht nach Hylfing gekommen, um im Bett zu liegen. Dafür waren auch Tate und Roland nicht gestorben. Zumindest hoffte er das. Er hatte zu tun. Der dicke Frank hatte gesagt, er solle sich taufen lassen. Warum das so wichtig war, wusste er nicht. Auch die anderen Elfen, Radulf und Braithwait und Rip, hatten in seinem Traum davon gesprochen. Sie hatten nicht gewollt, dass er getauft würde. Was hatte Rip noch gleich gesagt? Sie durften es nicht riskieren.
Und das war es, was Ron und Nella gesehen und wovon sie gesprochen hatten; der Grund, warum Ron ihn aufgefangen hatte, als er gestürzt war: Darius war hier! Dies war der Ort, an dem Henry stehen und sich beweisen sollte. Und vielleicht war es auch der Ort, an dem er sterben musste.
Henry blickte sich um, ob er irgendwo Schuhe entdeckte. Er sah keine. Als er sich vor das Bett kniete, um darunter nachzusehen, hörte er ein Kichern vor seinem Zimmer und die Tür flog auf.
Ein ganzer Schwarm Mädchen kam herein. Ein Schwarm Mädchen − und Richard.
Bevor Henry etwas sagen konnte, nahm Penny ihn in die Arme und drückte ihn. Anastasia machte es ebenso, während Richard von einem Bein auf das andere trat, grinste und an seinem schmuddeligen blauen Gips herumfummelte.
Henrietta hielt sich mit verschränkten Armen im Hintergrund. Offenbar hoch zufrieden mit sich selbst. Neben ihr standen zwei weitere Mädchen. Eines war ein Stück größer als Penelope und hatte langes glattes kastanienbraunes Haar. Das andere Mädchen war so groß wie Henrietta und hatte schwarzes Haar wie Hyazinth. Beide lächelten, schienen aber auch ein bisschen verlegen zu sein.
»Weißt du, dass du Schwestern hast?«, rief Anastasia aus.
»Und Brüder auch«, fügte Penelope hinzu. »Aber die wirst du erst später kennenlernen.«
Jetzt kam Richard und streckte Henry seinen Gipsarm entgegen. Henry lachte und schüttelte ihn. Dann ging er zu den beiden unbekannten Mädchen und versuchte weniger nervös auszusehen, als er sich fühlte.
»Hallo«, sagte er.
»Ich bin Una«, sagte das große Mädchen. »Ich kann mich noch daran erinnern, wie Vater mit dir weggegangen ist.«
»Und ich bin Isa«, rief die Kleinere. »Du siehst aus wie James.«
»Er sieht aus wie alle«, meinte Una.
»Am meisten aber wie James.«
»Wer ist denn James?«, wollte Henry wissen.
»Er ist der Jüngste«, sagte Una und strich sich das Haar genau wie Henrietta hinter die Ohren. »Der Jüngste, abgesehen von dir natürlich. Er fährt zur See.«
»Er ist ziemlich klein«, bemerkte Isa.
»Wer? James?«
»Du.«
»Du bist aber kleiner als ich«, meinte Henry
»Ich bin ja auch ein Mädchen. Aber ich bin trotzdem älter als du. Ich war fast zwei, als ihr aufgebrochen seid.«
»Aha.« Etwas anderes fiel Henry nicht ein. Fünf Mädchen standen um ihn herum und starrten ihn an. Fünf Mädchen plus Richard.
»Zeke ist auch hier«, meinte Richard mit einem Mal.
»Was?«, fragte Henry. »Wie das denn?«
»Und ein Polizist«, fügte Anastasia hinzu. »Ich weiß aber nicht mehr, wie er heißt.«
»Willst du wirklich die ganze Geschichte hören?«, fragte Henrietta dazwischen.
Henry schüttelte den Kopf. »Irgendwann mal. Aber nicht jetzt. Ich will lieber sehen, was hier vor sich geht.«
»Wir dürfen aber nicht raus«, sagte Anastasia.
»Ist Zeke draußen?«, fragte Henry. Er kannte die Antwort zwar, aber er wartete ab, bis seine Cousinen nickten. »Dann darf ich das auch.«
Rundherum begannen die Glocken zu läuten.
»Ich würde lieber nicht hinausgehen«, meinte Una. »Onkel Caleb hat gesagt, die Glocken würden läuten, sobald die Mauer eingerissen sei. Wir sollten besser hierbleiben.«
Henry sah der Reihe nach alle an. »Ich muss aber«, sagte er. »Es ist meine Aufgabe.« Seine Stimme schwankte ein wenig.
»Hast du Angst?«, erkundigte sich Una.
Henry schluckte angestrengt. »Immerhin habe ich mich bisher
noch nicht übergeben müssen«, stellte er fest und verließ das Zimmer.
Darius war der Kopf auf die Brust gesunken. Der siebenundsiebzigste Zauberer war gefallen. Getötet von jemandem, der sich außerhalb der Mauern befand. Das war eine stattliche Zahl. Ein schmerzhafter Verlust. Darius würde diesen Ameisenhaufen zertreten müssen.
Er hob den Kopf und blickte ohne zu sehen über die Ebene.
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