Fluch der 100 Pforten
Ihre Hände bekamen eine Leiste des Schranks auf der anderen Seite der Pforte zu fassen und ihre Fingerspitzen ertasteten den Teppich. Eine letzte Kraftanstrengung, ein Stöhnen, ein so schmerzhaftes Ziehen, dass ihre Muskeln zu reißen schienen – und sie purzelte auf den Boden in Großvaters Zimmer.
Erschöpft, aber dennoch panisch, rappelte sie sich auf und lief zum Dachboden hinauf, ohne Großvaters Tür zu schließen. Sie stürzte in Henrys Zimmer, warf sich gegen die Wand mit den Fächern und drehte mit einer Hand an den Kompass-Schlössern, ohne darauf zu achten, wohin sie nun zeigten. Dann lief sie mit weichen Knien zurück auf den Flur im ersten Stockwerk und tastete sich am Geländer zurück zu Großvaters Zimmer.
Der Teppich war völlig durchweicht und aus dem Schrank tropfte immer noch Wasser. Henrietta konnte nur hoffen, dass es nicht durch die Decke sickerte und ins Wohnzimmer lief. Aber selbst wenn – was machte das schon? Immerhin soff sie nicht darin ab. Und sie trieb auch nicht irgendwo mitten in einer aberwitzigen Seeschlacht, ohne Hoffnung, jemals wieder nach Hause zurückkehren zu können. Sie schloss die Tür und ging ins Bad.
»Henrietta?«, rief Penelope. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, brachte Henrietta mit zugeschnürtem Hals hervor. »Ich«, fügte sie hinzu und schluckte, »ich will gerade duschen gehen.«
»Zeke ist da«, schrie Anastasia. »Komm doch runter und erzähl ihm von Henry.«
»Gleich«, antwortete Henrietta. Sie ging ins Bad, schloss die Tür ab und lehnte sich gegen das Waschbecken. Sie hatte sich auf dem Schiffsdeck die Kleider zerrissen und versaut – mit Öl und Blut und Salzwasser. Dort, wo der Mann sie gepackt hatte, bevor er abgestürzt war, zogen sich blutige Kratzspuren von ihrer Stirn bis zu den Wangen. Sie spürte ein Schluchzen in ihrer Brust, aber sie unterdrückte es. Stattdessen drehte sie die Dusche an und stellte sich zitternd darunter.
Sie beobachtete, wie der Dreck aus ihren Kleidern und von ihren Schuhen gewaschen wurde und sich über dem Abfluss drehte. Dann hob sie zögernd die Hand ans Gesicht und wischte sich das Blut ab. Eisige Angst und Erleichterung durchfluteten sie gleichzeitig. Ihre Knie zitterten und verweigerten ihr nun endgültig den Dienst. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und kauerte sich in der Wanne zusammen.
Großvaters Schlüssel steckte in ihrer Tasche und grub sich in ihr Bein.
Henry lag mucksmäuschenstill da. Er wusste nicht, ob er wach war oder schlief. Aber er wusste, dass er zuhörte. Und er wollte weiter zuhören. Darum rührte er sich nicht.
Eine Frauenstimme sagte: »Wenn er aufwacht, wird die Wirkung des Beruhigungsmittels nachgelassen haben. Ich würde
ihm nicht unbedingt noch eine Dosis verabreichen. Wir können es aber tun, wenn Sie es wünschen.«
»Wir werden schon klar kommen«, meinte Frank.
»Das können wir doch noch gar nicht wissen.« Dotty klang nervös. »Wir wissen nicht, wie es heute Abend aussehen wird.«
»Zur Sicherheit kann ich Ihnen etwas mitgeben«, sagte die Frau. »Sie müssen es nicht anwenden, aber vielleicht möchten Sie es doch. In Fällen wie diesem ist Panik kein Symptom, sondern die Ursache.«
»Meinen Sie wirklich, er bildet sich das alles nur ein?«, fragte Dotty. »Seine Augen sahen furchtbar aus. Und diese Verbrennung in seiner Handfläche …«
Henry hörte, wie die Frau sich bewegte. Sie stieß irgendwo leicht gegen und ihre Sohlen quietschten. »Wir haben jede Untersuchung durchgeführt, die nur möglich war. Sein Gehirn zeigt keinerlei Abweichungen und er hat auch keine erkennbaren Nervenschäden. Der Glukosewert in seinem Urin ist ein wenig erhöht, aber die Blutwerte waren in Ordnung. Und ganz so schlimm war es mit seinen Augen auch nicht. Die Schwellung der Lider ist gut abgeklungen und die Pupillen reagieren auf Licht vollkommen normal. Wenn seine Sehkraft durch einen Blitz beeinträchtigt worden wäre, wären geschwollene Augenlider auch ein unübliches Symptom. Ehrlich gesagt, ich setze darauf, dass er einen eher harmlosen Allergieschub hatte – der aber große Wirkung gezeigt hat. Eine regelrechte Panikattacke. Er hat geglaubt, er sei vom Blitz getroffen worden und nach dem Auftreten der Schwellung hat er sich in die Blindheit hineingesteigert. Wenn er
nicht bald wieder sehen kann, sollten Sie meiner Meinung nach einen Therapeuten mit ihm aufsuchen.«
»Die Verbrennung«, sagte Frank.
»Wie bitte?«
»Was ist mit der Verbrennung?«
»Tja«, sagte die
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