Fluch der 100 Pforten
Morgen waren Henrys Augenlider ganz geschwollen und er konnte nichts sehen. Das ist alles, was ich weiß. Haben Mom und Dad angerufen?«
»Gleich als sie im Krankenhaus angekommen waren«, antwortete Penny. »Aber da wussten sie noch nichts.«
Anastasia beugte sich über den Tisch. »Meinst du, er hat uns was vorgespielt?«
»Nein«, antwortete Henrietta. »Hat er nicht.«
Zeke schob sich die Kappe auf den Hinterkopf. »Aber er ist nicht vom Blitz getroffen worden?«
Henrietta zuckte die Schultern. »Es muss irgendetwas anderes gewesen sein, das ihn umgehauen habt.« Sie ging zurück zur Treppe. »Ich leg mich ein bisschen hin.«
Auf dem Flur in der ersten Etage blieb sie stehen und sah hinüber zu ihrem Zimmer. Dann stieg sie die Treppe zum Dachboden hinauf.
In Henrys Zimmer ließ sie sich auf sein Bett fallen und schob ihre Hand unter sein Kopfkissen. Sie würde nie mehr allein durch diese Fächer schlüpfen. Auf keinen Fall! Jedenfalls so lange nicht, bis sie nicht Großvaters Notizbuch von vorn bis hinten gelesen hatte. Und je nachdem, was darin stand, danach dann auch nicht mehr.
Die ersten Seiten kannte sie schon, die Entschuldigungen an Frank und Dotty, das Eingeständnis von Unaufrichtigkeit und Überheblichkeit und das ganze Zeug über die Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters. Trotzdem überflog sie die Seiten noch mal von vorn und las erst genauer, als sie auf etwas Neues stieß. Zum Teil ergab es keinen richtigen Sinn, aber
das machte nichts. Dann wollte sie sich eben mit den Stellen befassen, die einen Sinn ergaben.
… irgendwann werdet ihr wieder auf die Fächer stoßen und es wird euch nötig erscheinen, sie zu erforschen. All dies schreibe ich auf, um Schaden zu verhindern, soweit dies bei solchen Unternehmungen möglich ist, vor allem aber, um euch die Fehler zu zeigen, die mein Vater und ich begangen haben.
Dieses Haus und die Fächer sind das Lebenswerk meines Vaters – und gleichzeitig der Ruin seines Lebens. Wenn ihr euch die Mühe machen wollt, seine Aufzeichnungen anzusehen: Sie liegen mit Schnur zusammengebunden unter einer losen Diele unter meinem Bett. Sie sind vollständig, von seinen ersten überwältigenden Visionen und eleganten theoretischen Ableitungen Euklids, Pythagoras’, Ptolemäus’ und Sharaf al-Tusis bis hin zu seinem letzten unverständlichen und verrückten Geschwätz. Das Haus und die Pforten sind irgendwann in meine Zuständigkeit übergegangen, aber zuletzt dämpfte der Wahnsinn meines Vaters mein Interesse daran. Ihm ist es niemals gelungen, alle Pforten gangbar zu machen. Aber wie auch immer – ich habe seinen Entwurf zu Ende geführt.
Ich habe kaum die Hoffnung, dass ihr, Dorothy und Frank, das Ganze jemals verstehen werdet. Daher sage ich nur so viel: Meinem Vater ist es gelungen, aus dem Verlauf real existierender Geraden im Raum eine Art sphärischer Geometrie zu entwickeln. Dadurch wurde es ihm möglich, bestimmte Punkte im Universum festzulegen. Was die Zeit angeht – ist Zeit etwas anderes als Bewegung im Raum? Ihr versteht nur Bahnhof, ich weiß. Aber seid nachsichtig einem
Toten gegenüber. Meinem Vater war es nicht möglich, diese Schnittstellen selbst herzustellen. Er konnte sie nur aufspüren, neu ordnen und sie sich zunutze machen. Die Magie (für ihn war alles nur Mechanik, aber ohne das kraftvolle Erbe von FitzFaeren hätte ich all das nie ans Laufen bekommen) findet sich in Holz, in Metall oder auch in Stein. Substanzen wie diese sind nicht so in der Zeit befangen wie wir. Ein Baum lebt in all seinen Ringen. Eine alte Eiche mag Zeugin eines archaischen Rituals geworden sein; sie hat gesehen, wie Blut vergossen wurde und gespürt, wie es in ihre Rinde gerieben wurde. Fälle sie Jahrhunderte später, schnitze etwas Schönes aus ihr, und sie wird dich dorthin mitnehmen, wo sie noch immer lebt, in den Tiefen ihrer Erinnerung.
Oft haben diese Schnittstellen etwas Gewalttätiges. Sie sind wie Narben, Resultate des Bösen und Falschen. Manche führen in einen Moment. Andere an einen Ort. Und, so hört die Warnung: Bereist diese Fächer nicht, bevor ihr nicht stark genug seid, Zeugen von Mord und Tod zu werden, euch in Gräber zu begeben und Ruinen voller Gebeine aufzusuchen. Die Fächer selbst sind nicht böse. Aber sie tragen die Erinnerung an das Böse.
Glaubt nicht, was ihr seht, sei reine Illusion. Dort wo ihr seid, ist immer das Jetzt. Ob ihr im Topkapi geköpft werdet oder unter einem Katapult in Actium ertrinkt, zusammen mit den Sklaven,
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