Fluch der 100 Pforten
richten können. Das Zeichen war bunt, hatte alle möglichen Farben. Sie erschienen, während sich das Zeichen stetig bewegte und fortwährend seine Form änderte, sich krümmte und wand wie eine leuchtende Schlange, die ein fremdartiges Alphabet buchstabierte. Und obwohl es sich ständig veränderte, blieb das Zeichen doch immer irgendwie gleich.
Henry wusste, was es war. Sein Kopf begann zu hämmern, während er das Zeichen betrachtete, und er erinnerte sich wieder an den schrecklichen Schmerz. Dies war das Bild, der Inbegriff, der Name, die Urkraft des Löwenzahns, und Henry betrachtete ihn auf eine Weise, wie er noch nie zuvor irgendetwas gesehen oder gekannt hatte.
In plötzlicher Panik schob Henry die Hand unter sein Bein. Sein ganzer Körper schmerzte davon, dass er den Löwenzahn angesehen hatte, und seine Hand pochte. Aber noch viel beängstigender als der Schmerz war, dass ihm absolut unverständlich blieb, was mit ihm geschehen war.
Er konnte sich an alles erinnern. Daran, wie Henrietta nach dem Schlüssel gegraben hatte, an das Gewitter, an den Wind und an die von der Sonne vergoldeten Felder. Er erinnerte sich, dass er einen Löwenzahn leuchten gesehen hatte. Er hatte ihn angesehen und ein Schmerz war in ihm explodiert, doch er hatte weiter hinsehen müssen. Und dann hatte er den Löwenzahn angefasst. Henrietta hatte ihn wachgerüttelt. Und er war blind gewesen.
Für Henry war Magie nichts Neues. Er schlief neben Fächern und Türen, die ohne Magie schlicht nicht zu erklären
waren. Er hatte gesehen, wie die Axt seines Onkels durch Magie zurückgeschleudert worden war. Und das Blut einer Hexe hatte sich in seine Wange gebrannt. Er hatte aber auch die Hosenbeine eines Postangestellten auf der anderen Seite seiner Dachbodenwand gesehen und er hatte Badon Hill gerochen. Und dennoch war Magie für Henry etwas Schlechtes, etwas Schlimmes, Gefährliches, etwas, das man besser irgendwohin verbannte und gut darauf achtete, die Tür mit Schrauben zu verschließen.
Ein Löwenzahn hatte nichts Magisches. Konnte er gar nicht haben. Löwenzahn war doch überall und etwas absolut Alltägliches. Wenn ein Löwenzahn magisch sein sollte – also, dann musste alles und jedes Ding magisch sein.
Henry erschauderte. Er würgte. Dann rutschte er auf den Boden. Er war kurz davor, sich zu übergeben. Das war ihm in diesem Zimmer schon einmal passiert, aus Angst vor einer Welt, die so anders war als alles, wovon er je gehört hatte. Er war drauf und dran, verrückt zu werden – oder die Welt wurde verrückt. Mehr Möglichkeiten gab es nicht. Und beide gefielen ihm nicht.
Aber verrückt oder nicht – er wollte sich nicht übergeben. Er kniete sich hin und versuchte tief durchzuatmen, wie ein ganz normaler Mensch: tiefe, langsame, gleichmäßige Atemzüge. Das half. Vielleicht sollte er doch mal einen Therapeuten aufsuchen. Vielleicht hatte er ein mentales Problem. Welcher Blinde konnte schon ausgerechnet eine Brandwunde sehen? Das Brandmal eines Löwenzahns?
Seine Tür quietschte und er hob den Kopf.
»Henrietta?«, fragte er. »Richard?«
Ein Schnaufen wurde hörbar und Henry beruhigte sich. »Komm her«, sagte er. Er streckte seine gesunde Hand aus, in der Annahme, die weiche Flanke des Ragganten zu fühlen. Stattdessen stieß etwas Hartes, Stumpfes und leicht Ausgefranstes an seine Handfläche. Henry zog den Ragganten an seinem Horn zu sich heran, ließ seine Hand am Kopf des Tieres hinaufwandern und kraulte es hinter seinen zuckenden Ohren.
An seiner anderen Hand fühlte Henry Fell und er wusste, dass der Kater Blake auch heraufgekommen war. Henry war blind, verrückt und sein Magen rebellierte – und trotzdem lächelte er. Er nahm die beiden Tiere in die Arme, drückte sie an sich wie Talismane gegen Panik und legte sich auf sein Bett, um nachzudenken.
Mit einer Hand knetete Henry den Nackenspeck des Ragganten, an der anderen schleckte Blake. Die Welt war schon seltsam. Er hätte einem kleinen Nashorn keine Flügel verpasst, und den Katzen auch keine Sandpapierzungen.
Ich bin völlig normal, redete Henry sich zu. Normal. Normal wie ein Löwenzahn.
Soweit er die Sache sah, gab es drei Möglichkeiten. Er konnte blind, wie er war, in die Fächer schlüpfen und dabei eventuell sterben oder zumindest für immer verloren gehen. Was im Moment nicht allzu schrecklich klang. Oder er konnte darauf warten, dass seine Eltern – oder einer seiner Eltern oder irgendeine Rechtsanwältin – kamen und ihn abholten. Er
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