Fluch der 100 Pforten
war feucht und schmutzig und sein Kopf voller Erde. Er lief zurück zu Henry und schob ihn tiefer in den Baum hinein. Dann legte er sich hin und deckte Henry mit seinem Kopf zu. Nun fror Henry nicht mehr. Aber der Hund sprang wieder auf und lief zurück zur Felsplatte. Henry versuchte ihn im Auge zu behalten, aber
sein Kopf rutschte zur Seite und unter Schreien glitt er tiefer in den Baum hinein.
Dort fand er sich in einem anderen Traum wieder.
Henry saß an einer langen Tafel. Wasser rann von seiner Nase. Der Tisch war mit Essen beladen und rundherum saßen Leute. Onkel Frank saß ihm gegenüber und zwinkerte ihm zu.
»Wirf das Messer, Henry«, sagte Onkel Frank. »Wenn er kommt, musst du es werfen. Du hast nur diese eine Chance.«
SECHZEHNTES KAPITEL
J ede Bewegung des Pferdes schmerzte Henrietta in den Beinen und in der Hüfte. Dabei war noch keine Stunde vergangen, seitdem sie aufgestiegen war. Caleb, der hinter ihr saß, bewegte sich mit Leichtigkeit auf und ab. Henrietta hingegen sank immer genau dann nach unten, wenn sich die breiten Schultern des Pferdes nach oben bewegten, und sie streckte sich, wenn die Pferdeschultern nach unten sanken. Sie kam sich vor, als wenn sie mit jemandem, der bedeutend größer war als sie, auf einem Trampolin gesprungen wäre. Mit jemandem, der alles dafür tat, dass ihr schlecht wurde.
Das Pferd erschien ihr so groß wie ein Traktor, und wenn der fremde Mann nicht seinen Arm um ihre Hüfte gelegt hätte, wäre sie wohl schon ein Dutzend Mal heruntergefallen. Henrietta war zwar früher schon mal geritten, aber nur auf dem breiten Rücken eines alten Gauls, der am Straßenrand entlanggetrottet war. Dieses Pferd aber war ein stolzes Tier und jeder Grund schien ihm recht zu sein, um zu traben oder in Galopp zu fallen. So weit Henrietta es beurteilen konnte, ließ Caleb den Hengst laufen, wie es ihm passte. Zumindest nahm sie an, dass es sich um einen Hengst handelte.
Zügel oder etwas anderes, das Caleb hätte fassen können, gab es nicht. Mit einer Hand hielt er Henrietta fest. In der anderen hielt er einen schwarzen Bogen.
»Du wirst deinen kleinen Freund bald wiedersehen«, sagte er und deutete mit seinem Bogen, der offenbar aus zwei langen Hörnern gefertigt war, an ihr vorbei. »Da vorne liegt ein verlassenes Dorf. Man wird ihn zum Brunnen bringen.«
Sie ritten durch die Talsohle. Als sie um die nächste Kurve bogen, sah Henrietta die Silhouette eines Dorfes. Sogar aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass die meisten Häuser krumm und schief waren. Die Dächer waren so löcherig wie in den ältesten verlassenen Scheunen, die sie jemals heimlich zu erkunden gewagt hatte.
Als sie sich dem Dorf näherten, fiel das Pferd in Schritt. Einige Häuser schienen einmal ziemlich groß gewesen zu sein, mit drei oder vier Etagen. Nun war keines mehr höher als zwei Stockwerke. Eingeschlagene Fensterscheiben starrten ihr mit gebleckten Zähnen entgegen. Die Mauern waren verrottet, aber nicht durch Feuchtigkeit oder Moos und Schimmel, sondern sie schienen zu vertrocknen. Sie bröckelten und zerfielen zu Staub. Den Kopf hoch aufgerichtet, schritt das Pferd die Hauptstraße entlang und Henrietta passierte aus den Angeln gerissene Türen und zerbrochene Fenster. Einige der größeren Gebäude waren niedergebrannt, aber ihre schwarzen Gerippe ragten noch in den Himmel hinauf und erinnerten an das, was sie einmal gewesen waren.
Die Straße mündete auf einen zentralen Platz. Das Kopfsteinpflaster war von trockenen Gräsern und Unkraut durchsetzt. In der Mitte aber erhob sich ein Brunnen. Er war bei
weitem nicht so prächtig wie der, den Henrietta auf dem großen verfallenen Schlossplatz gesehen hatte, aber immerhin floss noch Wasser in seinem Becken.
Die Figur auf dem Brunnen hatte wohl einmal eine Frau dargestellt. Sie war doppelt so groß wie Caleb und hielt eine stattliche Schale auf ihrem Kopf. Ein Arm war abgefallen, aber an der Unterseite der zersprungenen Schale war die Hand noch sichtbar. Wasser rann über das Gesicht der Frau und über ihr Gewand und ließ den Stein wie von Fett glänzen.
Das Pferd blieb stehen und tänzelte ein wenig neben dem Brunnen auf der Stelle.
»Sei gegrüßt, Magdalene«, sagte Caleb.
Henrietta blickte über den ganzen Platz, aber außer zerstörten Häusern konnte sie nichts sehen.
»Bleib auf dem Pferd sitzen«, flüsterte Caleb und glitt zu Boden. Henrietta fasste mit beiden Händen in die Mähne des Pferdes, achtete aber darauf, es
Weitere Kostenlose Bücher