Fluch der Engel: Roman (German Edition)
nicht länger ertragen zu müssen, kauerte ich mich mit der Laterne in eine Ecke, nahm einen Schluck des Schlaftees mit Traumgarantie, den Aron für mich gebraut hatte, und schloss die Augen. Den sterblichen Überresten entkam ich dennoch nicht. Lachend formierten sie sich zu geisterhaften Nebelschwaden und tanzten ihren Totenwalzer.
Ich versuchte, die Illusion auszublenden. Schließlich sollte ich hier nicht das Fürchten lernen, sondern der Totenwächterin auf die Schliche kommen – falls sie überhaupt bemerkte, dass ich hier war.
Sie tat es. Davor jedoch gönnte sie mir ein paar nervenzerreißende Stunden in der Totengruft, auf die ich lieber verzichtet hätte – Gespenstern in Tanzekstase zuzuschauen war nicht gerade prickelnd. Dass es einer ihrer Tricks war, um mich einzulullen, bemerkte ich erst, als mir ihre Stimme einen heftigen Schreck einjagte.
Willkommen in meiner Halle des Todes. Normalerweise empfange ich hier keine Engel, aber bei dir mache ich gerne eine Ausnahme. Du kennst die Gruft ja bereits – und noch weit mehr, begrüßte sie mich mit einem engelhaften Lächeln.
Der düstere Spalt weitete sich und offenbarte einen Blick auf ihren mit regenbogenfarbenen Gischtschleiern und erstarrten Schaumkrönchen verzierten Palast aus Wasser und Eis.
Möchtest du eintreten?
Sehr ge…, erschrocken brach ich ab. Der Wunsch, ihr schönes,seltsam unbeseeltes Reich unter dem See zu betreten, stammte nicht von mir! – Obwohl es sich so anfühlte, als wäre ich wach, träumte ich noch immer.
Schnell drängte ich das Trugbild der Wächterin zurück, bis nur noch ein verschwommener Schatten von der makellosen Gestalt übrigblieb. Ganz vertrieb ich sie nicht, schließlich wollte ich ja, dass sie einen weiteren Versuch unternahm, in meine Träume zu gelangen. Genervt blendete ich den Totenwalzer mit seinen nebulösen Tänzern aus, konzentrierte mich auf die Stille der Gruft und wartete.
Kalter Nebel hüllte mich ein und erschwerte mir das Luftholen. Ich atmete weiter, bekämpfte das Gefühl, erstickt zu werden, und schärfte meine Sinne. Erneut erschien die Totenwächterin – diesmal in Begleitung. Er schenkte mir ein Lächeln, bei dem sich mein Herz zusammenzog.
Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Aufwachen war die schnellste Möglichkeit, Christophers Gestalt zu vertreiben – obwohl ich mich am liebsten in seine Arme geflüchtet hätte. Doch ich sah nur eine Illusion. Nichts, das mich liebte.
Das Warten entwickelte sich zur Gedulds- und Mutprobe. Arons Drohung, mich so lange hier runterzuschicken, bis ich wusste, wie die Wächterin sich in meine Träume stahl, half mir beim Ausharren und Teetrinken. Als die Nebel sich erneut zu skurrilen Gestalten formierten, wusste ich, dass ich wieder träumte.
Langsam ließ ich die dunklen Nebelfetzen verschwinden und wartete an der Schwelle zwischen Traum und Wirklichkeit auf die Totenwächterin. Kühler Atem streifte mein Gesicht, zog weiter und hüllte meinen Kopf in einen eisigen Schleier. Leise, kaum merklich, bahnte sich der sanfte Hauch seinen Weg. Obwohl alles in mir schrie, aufzuwachen, ließ ich zu, dass sich die Wächterin in meinen Traum schlich.
Lynn, Liebste, komm mit mir, säuselte sie mit ihrer weichen Honigstimme. Du hast dir mächtige Feinde geschaffen. Ich kann dir Frieden bieten in meinem Reich – dir und deinem Liebsten. Mit einemBlick, der Statuen – oder Tote – zum Leben erweckt hätte, streckte sie mir ihre Hand entgegen. Ich ignorierte ihr Angebot.
Hast du Christophers Versprechen vergessen, das mit dem Kopfabschlagen? Mutig ging ich – in meinem Traum – einen Schritt auf sie zu. Wir können dich gerne besuchen – gemeinsam.
Das Splittern von Glas riss mich in die Wirklichkeit zurück. Die Öllampe war erloschen. Ich war tatsächlich aufgestanden und hatte sie umgestoßen.
Kälte hüllte mich ein. Alte Ängste erwachten, als ein blaues Irrlicht durch die Pforte des Totenreichs schwebte. Weitere folgten, umschlossen mich in einem pulsierenden Reigen und drängten mich zu der Öffnung. Ich wehrte mich, schlug nach ihnen, doch sie waren schneller als ich, wendiger. Trotzig blieb ich stehen. Der stechende Schmerz, als das erste Irrlicht meinen Arm berührte, war heftig. Ich biss die Zähne zusammen und schluckte den Schrei, der in meiner Kehle saß. Ich war ein Racheengel. Welche Macht konnte so ein Irrlicht schon haben? – Erstaunlich qualvolle.
Lichtblitze durchbohrten meine Haut. Beißender Gestank erfüllte die Luft.
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