Fluch der Leidenschaft
lehnte sich zurück; sie kämpfte gegen die Tränen an und wünschte sich, tot zu sein. Noch vor einer Woche war ihre Welt schön, voller Freude und sicher gewesen. Nichts hatte sie auf diese Veränderungen vorbereitet.
Sie würde den Platz ihres Vaters nie einnehmen können, dazu fehlten ihr das entsprechende Wissen, die charakterliche Stärke und die Härte. Wer war sie, dass sie Männer in Leid und Tod schicken oder sie zwingen konnte, sich ihren Dämonen, ihren innersten Ängsten zu stellen?
Sie wusste, was es bedeutete, von einer irrationalen Furcht beherrscht zu sein; sie hatte Angst vor Ratten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, sich freiwillig in einen Raum voller Ratten zu wagen. Könnte sie das tun, um einen Freund zu retten? Sie wusste es nicht, aber schon beim bloßen Gedanken daran brach ihr der Schweiß aus.
Und was war das für ein Vater, fragte sie sich, der seinen eigenen Sohn in ein Verlies warf?
Sie ließ sich alles durch den Kopf gehen, was ihr über Roger von Cleeve und FitzRoger, den Bastard, zu Ohren gekommen war. Der alte Sir Roger hatte geheiratet und einige schwächliche Kinder in die Welt gesetzt, die früh starben. Schließlich blieb ihm nur mehr ein kränklicher Erbe und keine Hoffnung auf einen weiteren, solange seine Gemahlin lebte. Bei einem Besuch in der Normandie schwängerte er dann ein Mädchen – die Tochter eines armen Ritters, wie es hieß, doch von genügend hoher Geburt, um sie heiraten zu können, wenn er denn frei gewesen wäre.
Und dann war er plötzlich frei. Dem Gerücht zufolge hatte er die Nachricht erhalten, dass seine Gemahlin gestorben sei, und so heiratete er prompt seine Konkubine, zwei Monate vor der Geburt des Kindes.
Dann kehrte er nach England zurück, wo ihm nun der König als Belohnung für seine Dienste eine reiche Erbin offerierte. Verbittert darüber, eine solche Gelegenheit verstreichen lassen zu müssen, reiste er wieder in die Normandie zurück, um zu versuchen, sich aus der übereilt geschlossenen Ehe freizukaufen. Als er jedoch feststellte, dass seine Frau bereits nach acht Monaten niedergekommen war, ließ er die Ehe annullieren mit der Begründung, er habe sie nicht vollzogen – was in gewisser Hinsicht der Wahrheit entsprach, da er sie ja erst nach dem Zeugungsakt geheiratet hatte –, und das Kind sei nicht von ihm, was allgemein angezweifelt wurde.
All das brachte dem brutalen Mann, den Imogen nie besonders gemocht hatte, jedoch nicht viel Gutes ein. Wie sich herausstellte, war seine reiche Gemahlin ebenso unfruchtbar wie die erste; sie wurde nicht ein einziges Mal schwanger.
Wenn die Geschichte stimmte, dann war FitzRoger also in Wirklichkeit kein unehelicher Bastard. Um von seinem Halbbruder erben zu können, hatte er seine Herkunft bestimmt beweisen müssen.
Was den Rest der Geschichte anging, konnte sich Imogen durchaus vorstellen, dass der alte Roger von Cleeve ein ungewolltes Kind ins Verlies warf, doch sie hatte nicht gedacht, dass er und sein vermeintlicher Sohn sich je kennengelernt hatten. Der Bastard war von der Familie seiner Mutter in der Normandie aufgezogen worden. Vielleicht lag in dieser Familie der Grund für seine Angst. Sicher war man mit einer solchen »Schande« für die Familienehre nicht zimperlich verfahren.
Wieder einmal sagte sie sich, welches Glück sie mit ihrem Elternhaus gehabt hatte, und fühlte Mitleid für dieses unerwünschte Kind, das von beiden Seiten seiner Familie verleugnet und misshandelt worden war …
Etwas geschah, und sie riss sich aus ihren Gedanken und schaute zur Burg. Die ersten schwachen Anzeichen der Morgendämmerung erhellten den Himmel, ein noch helleres Licht kam jedoch von einem Feuer im äußeren Burghof von Carrisford Castle.
»Sie sind drinnen«, sagte sie sich erleichtert. Der Alarm war nicht ausgelöst worden. FitzRoger musste seine Ängste überwunden haben.
Ihre aufgeregte Hoffnung kehrte wieder. »Wir haben gesiegt!«
»Wollen wir es hoffen«, brummte Sir William und ließ sich sein Pferd bringen. »Ihr bleibt hier!«, herrschte er Imogen an, während er seine Kettenhaube aufzog und den Helm darüberstülpte. Dann schwang er sich in den Sattel und sammelte mit dem Ruf »FitzRoger!« seine Männer.
Die berittene Schar jagte über die Anhöhe und auf die Burg zu, den Namen ihres Lords schreiend und darauf erpicht, am Kampfgetümmel teilzunehmen, bevor es vorüber war.
Imogen beobachtete das Geschehen kniend; ihr Herz pochte vor Aufregung und Angst. Die Soldaten rasten
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