Fluch der Nacht: Roman
zärtlich. »Ich werde nur ein paar Stunden fort sein. Bleib im Gasthof bei der Wirtin und warte auf mich.«
Lara nickte und löste sich nur widerstrebend von ihm, um die Eingangstreppe hinaufzusteigen. Auf der ersten Stufe blieb sie jedoch wieder stehen und sah dem großen, gut aussehenden Mann nach, dessen langes Haar in der leichten Brise hinter ihm herflatterte, als er den Bürgersteig hinunterging. Allein sein Anblick – und zu wissen, dass er ihr gehörte – brachte ihr Herz wie wild zum Pochen.
Aber dann begann seine beeindruckende Gestalt zu flimmern, bis sie nahezu transparent war und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Lara stand dort und lauschte den Geräuschen der Nacht, von denen sie viele noch nie zuvor vernommen hatte. Auch ihre Sicht war anders, und die Winternacht nahm eine ganz besondere Schönheit an. Sie genoss es, einfach nur dazustehen und die Einsamkeit, den Frieden und das Gemurmel des Lebens in sich aufzunehmen.
Ein paar Minuten später drückte sie die Tür zum Gasthof auf und schlüpfte hinein. Im Gastraum war es warm und gemütlich, die hohen Deckenbalken ließen den Raum viel geräumiger erscheinen, und der offene Kamin verlieh ihm eine anheimelnde Atmosphäre.
Slavica, die Wirtin, begrüßte sie mit einem Lächeln. »Ich hatte gehofft, Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?«
Lara war sich im Klaren darüber, dass nur wenige Dorfbewohner sich der Karpatianer unter ihnen bewusst waren. Natürlich gab es Gerüchte, alte Legenden, die man sich flüsternd nachts am Kaminfeuer erzählte, doch nur wenige moderne Menschen glaubten die alten Geschichten. Lara hatte gehört, dass Mikhail Dubrinsky und die Familie der Wirtsleute seit vielen Jahren befreundet waren. Aber sie wollte nicht den Fehler machen, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und so erwiderte sie das Lächeln nur und nickte. »Ich wollte nach meinen Freunden sehen. Waren sie schon wieder hier unten?«
Slavica schüttelte den Kopf. »Ich habe sie angerufen, um zu fragen, ob ich ihnen Essen hinaufbringen sollte, doch sie lehnten ab. Deshalb habe ich sie in Ruhe gelassen.«
» Keiner von ihnen war zum Essen unten? Nicht mal Gerald?« Lara runzelte die Stirn. Beide Männer waren normalerweise gute Esser. »Hat Gregori nach ihnen gesehen?«
»Gestern am frühen Abend war Ihr Freund Nicolas da, und viel später kam auch Gregori vorbei. Er klopfte an, aber sie schliefen schon. Er sagte, er werde irgendwann heute Abend wiederkommen.«
»Haben Sie meine Freunde kürzlich gefragt, ob sie etwas essen möchten?«
»Ja, vor jeder Mahlzeit, und sie haben immer abgelehnt.«
Lara wurde bei Slavicas Antwort sehr beklommen zumute. Terry hatte seines Zustands wegen vielleicht noch keinen Appetit, doch Gerald müsste eigentlich großen Hunger haben. »Ich werde nach ihnen sehen.« Sie ging zur Treppe hinüber und stieg die Stufen hinauf.
Slavica folgte ihr. »Möchten Sie, dass ich mitkomme?«
Lara biss sich auf die Unterlippe. Ihre Unruhe nahm zu. Nicolas? Ich bin hier im Gasthof, doch als ich Slavica nach Terry und Gerald fragte ... Was sollte sie ihm sagen? Dass die beiden ein paar Mahlzeiten ausgelassen hatten? Es war möglich, dass Gerald eine abgelehnt hatte, aber drei? Oder sogar noch mehr als drei?
Warte auf mich. Ich komme gleich zurück.
Sie kam sich dumm vor, als sie wie angewurzelt am Kopf der Treppe stand und die Wirtin sie anschaute, als wäre sie ein wenig zurückgeblieben.
»Was ist?«, wollte Slavica wissen.
»Nichts. Ich glaube, ich habe meinen Schlüssel vergessen.« Sie errötete bei dieser lächerlichen Lüge und rieb sich mit der flachen Hand die linke Seite. Der kleine Fleck unterhalb ihrer Taille brannte ein bisschen.
»Werden sie Sie nicht hereinlassen, wenn Sie anklopfen?«, fragte Slavica, während sie mit flinken Schritten auf die Zimmertür zusteuerte.
Lara zögerte noch immer. »Vielleicht warte ich besser auf Nicolas. Er wollte auch vorbeikommen, und Terry und Gerald werden ihn sicher sehen wollen.«
Slavica schickte sich schon an umzukehren, doch dann verhielt sie abrupt den Schritt und rümpfte die Nase. »Was ist denn das für ein grässlicher Geruch?«
Angst erfasste Lara und jagte kalte Schauer über ihren Rücken. »Slavica, kommen Sie da weg!«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. Das Muttermal an ihrer Seite, der kleine Drache, der sie vor Bösem in der Nähe warnte, brannte heftiger. Sie streckte die Hand aus und dämpfte ihre Stimme sogar noch mehr. »Schnell! Beeilen Sie sich!«
Zum
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