Fluch der Nacht: Roman
du keine Gefangene bist. Ich habe einen Pfad in deinem Bewusstsein offen gelassen, damit du jederzeit den Ausweg findest, wenn du gehen willst oder glaubst, es tun zu müssen. Dieser Ort ist der sicherste und friedlichste, den ich kenne. Außerdem habe ich ihn zu deiner Sicherheit noch mit Schutzzaubern belegt. Es gibt ein Bett im Nebenraum, wo du dich ausruhen kannst.«
Sie durchforstete ihre Erinnerung und fand den Ausweg sofort. Es war, als hätte sie die Höhle schon tausend Mal betreten und kenne jeden Raum und jeden Gang. »Ich habe ein Zimmer in dem Gasthof.« Ihre Hand um den Messergriff entspannte sich nicht.
»Das ist im Moment von mehreren Männern besetzt. Ich dachte, vielleicht würdest du dich an diesem friedlichen Ort ein bisschen wohler fühlen.«
Nicolas’ schwarzes Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel, lenkte ihren Blick auf seine dunklen Augen, und der Impuls, ihm die seidigen Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, war so stark, dass sie einen Schritt zurücktrat, um dem Drang nicht nachzugeben.
»Das erklärt nicht, wie ich hierhergekommen bin oder warum du mich vorher nicht gefragt hast.«
Er zuckte die breiten Schultern, was einen interessanten, sehr reizvollen Effekt unter seinem Hemd bewirkte. Lara musste sich alle Mühe geben, nicht seine beeindruckenden Muskeln anzustarren.
»Ich habe dich hierher getragen. Wir haben uns in Nebel aufgelöst, um unbemerkt und schneller voranzukommen.«
Lara erstickte fast. »Ich verwandele mich nicht!«
Seine Augen funkelten sie an, seine Mundwinkel verzogen sich belustigt. »Du hast dich so problemlos verwandelt, dass ich dachte, du hättest das schon immer getan.«
Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Und wieso erinnere ich mich nicht daran?«
»Hast du oft Gedächtnislücken? Ist das etwas, dessen ich mir bewusst sein müsste und worauf ich achten sollte?«
»Ha, ha. Du findest dich wohl wirklich witzig, was? Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht verwandelt, und in Nebel schon gar nicht!« Und sie hatte es versucht, tausendmal, immer wieder, bis sie irgendwann geglaubt hatte, sie habe ihre Kindheit nur erfunden.
»Du weißt, wie es geht. In deinem Bewusstsein ist das Wissen vorhanden.«
»Tatsächlich?« Für einen Moment vergaß sie, dass sie ärgerlich auf ihn war. Sie wollte keine alten Erinnerungen ausgraben, um herauszufinden, ob sie sich verwandeln konnte, aber wenn er recht hatte, wäre das zweifellos ein ausgesprochen nützliches Talent. Ihre Tanten waren verwandlungsfähig, das wusste sie. Sie waren in Drachengestalt gefangen gewesen, aber das war nicht ihre natürliche Gestalt. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihr neben Sprachen, Heilkünsten und Magie auch diese Fähigkeit mitgegeben hatten. »Ich wusste das gar nicht.«
»Nun, über das Wissen verfügst du jedenfalls. Du brauchst natürlich Hilfe, weil du keine reinblütige Karpatianerin bist, aber es ist gar nicht schwer. Du hast Barrieren um dich, Schutzzauber. Deine ganz persönlichen habe ich gefunden«, stellte er nüchtern fest und beobachtete sie prüfend. »Doch da sind auch noch andere Schutzzauber, die von einem Mann und zwei Frauen erzeugt wurden, die offenbar nicht wollen, dass du dich an deine Kindheit erinnerst.«
Die beiden Frauen mussten ihre Tanten sein – aber der Mann? Ihr Vater? Sie kannte keine anderen Männer. Doch warum sollte ihr Vater einerseits eine Barriere vor ihren frühesten Erinnerungen erzeugen, sie andererseits jedoch tagtäglich mitansehen lassen, wie er sich von ihrem Blut ernährte? Wie so oft in den letzten Stunden drehte sich ihr der Magen um, und sie wandte sich von Nicolas ab, weil sie nicht noch mehr Schwäche vor ihm zeigen wollte. Sie hatte häufig Albträume, aber noch nie war jemand dabei gewesen und hatte diese bösen Träume gesehen. Und in ihren früheren Flashbacks – sofern man sie so nennen konnte – hatte sie Razvan auch noch nie angekettet und als Gefangenen gesehen.
»Ich verstehe überhaupt nichts von all dem.«
Warum sah sie nun statt sich selbst plötzlich Razvan als das Opfer? Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben, nicht einmal ihr eigenes Verhalten. Lara konnte sich einfach nicht erklären, warum ihre Tanten – oder jemand anders, der ohne ihr Wissen in ihrem Kopf gewesen war – nicht wollten, dass sie sich an ihre Zeit als Kind erinnerte.
»Warum sollten sie meine Erinnerungen auslöschen wollen?«, murmelte sie und konnte die gequälte Miene ihres Vaters nicht aus ihrem Kopf
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