Fluch, Der: Roman
bestand jederzeit die Chance - unwahrscheinlich aber immerhin möglich -, daß die Frage nach Rossingtons Versäumnis, sich rechtzeitig für befangen zu erklären, wieder gestellt wurde. Oder die Tatsache, daß der den Unfall untersuchende Polizeibeamte sich nicht die Mühe gemacht hatte, Halleck ins Röhrchen blasen zu lassen, nachdem er gesehen hatte, wer der Fahrer (und wer das Unfallopfer) war. Und Rossington hatte vor seinem Richterstuhl aus nicht danach gefragt, warum dieser fundamentale Teil einer Unfallaufnahme unterlassen worden wäre.
Es gab noch andere Nachforschungen, die er hätte anstellen können, aber er hatte es unterlassen.
Nein, Halleck glaubte seine Geschichte bei Rossington einigermaßen gut aufgehoben; jedenfalls, bis etwas Gras über die Zigeunersache gewachsen war ... in fünf, vielleicht auch sieben Jahren. Doch im Augenblick war es dieses Jahr, worüber er sich Sorgen machte. Wenn er in diesem Tempo weitermachte, würde er, noch bevor der Sommer vorüber war, wie ein Flüchtling aus einem Konzentrationslager aussehen.
Er zog sich schnell wieder an, ging nach unten und holte sich seinen Anorak aus der Garderobe.
»Wohin gehst du?« fragte Heidi aus der Küche.
»Weg«, antwortete Billy. »Ich bin bald wieder zurück.«
Leda Rossington öffnete die Tür und sah Billy an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. Das Deckenlicht im Flur hinter ihr betonte ihre hageren, aristokratischen Wangenknochen.
Es fiel auf ihr schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar, das die allerersten weißen Fäden aufwies (Nein, dachte Halleck, nicht weiß, sondern silbern ... Leda wird niemals etwas so Plebejisches wie weißes Haar haben), und auf das rasengrüne Dior-Kleid, ein simples kleines Etwas, das vermutlich nicht unter fünfzehnhundert Dollar zu haben gewesen war.
Unter ihrem Blick fühlte er sich ausgesprochen unbehaglich. Habe ich soviel abgenommen, daß sie mich nicht mehr erkennt? Aber selbst bei seinem Verfolgungswahn in bezug auf seine neue Erscheinung fand er das recht unwahrscheinlich. Sein Gesicht war hagerer geworden, ein paar neue Kummerfalten hatten sich um seinen Mund gegraben, die Ringe unter seinen Augen waren aufgrund seiner Schlaflosigkeit noch dunkler geworden, aber ansonsten trug er immer noch dasselbe alte Billy-Halleck-Gesicht. Die Orna-mentlampe am Gartentor (ein schmiedeeisernes Faksimile der New Yorker Straßenlaternen von 1880, Horchow Collec-tion, 687 Dollar plus Versandkosten) warf nur einen schwachen Schimmer bis zur Haustür, vor der er stand. Und er hatte seinen Anorak an. Sie konnte gar nicht sehen, wieviel er abgenommen hatte ... oder doch?
»Leda. Ich bin's. Billy Halleck.«
»Ja, natürlich. Hallo, Billy.« Ihre Hand schwebte, halb zur Faust geballt, immer noch unter ihrem Kinn und strich in einer fragenden, nachdenklichen Geste über ihren Kehlkopf. Ihr Gesicht war für eine Frau von neunundfünfzig bemerkenswert glatt, aber für ihren Hals hatten die Liftingoperationen nicht viel tun können. Dort war die Haut locker und faltig.
Vielleicht ist sie betrunken. Oder ... Er mußte daran denken, wie Dr. Houston sorgfältig seine winzigen bolivianischen Schneewehen durch die Nase hochzog. Drogen? Leda Rossington? Kaum anzunehmen bei jemandem, der in einem Spiel mit zwei fehlenden Haupttrümpfen und einem ansonsten miserablen Blatt hoch reizen konnte... und dabei noch gewann.
Und infolgedessen: Sie hat Angst. Sie ist verzweifelt. Was ist hier los? Kann es irgendwie in Zusammenhang stehen mit dem, was ich erlebe?
Das war doch verrückt, na klar... und trotzdem spürte er ein beinahe wahnsinniges Verlangen zu erfahren, warum Leda Rossington ihre Lippen so zusammenpreßte, warum die Ringe unter ihren Augen trotz der schwachen Beleuch-tung und der besten Kosmetika, die man für Geld kaufen konnte, genauso dunkel und ausgehöhlt wirkten wie die unter seinen, warum die Hand, die jetzt am Kragen ihres Diorkleides herumnestelte, leicht zitterte.
Billy und Leda Rossington sahen sich etwa fünfzehn Sekünden lang an. Es herrschte furchtbare Stille ... Dann sagten sie genau gleichzeitig:
»Leda, ist Cary ...« – »Cary ist nicht da, Billy. Er ist ...«
Sie unterbrach sich. Er bedeutete ihr weiterzusprechen.
»Er wurde nach Minnesota gerufen. Seine Schwester ist sehr krank.«
»Das ist interessant«, meinte Billy. »Cary hat nämlich gar keine Schwester.«
Sie lächelte. Es war der Versuch, das wohlerzogene, schmerzliche Lächeln aufzusetzen, das höfliche Menschen für
Weitere Kostenlose Bücher