Fluch von Scarborough Fair
Gänge, bis die Polizei sie rauswarf. Im Winter schlief sie manchmal in Hauseingängen in der Main Street. Manchmal kam sie auch in Obdachlosenheimen unter, aber dort blieb sie nie lange. Oft sah man sie monate- oder gar jahrelang nicht, bis sie auf einmal wieder auftauchte. Keiner wusste, wohin sie ging, wenn sie verschwand. Vermutlich in eine andere Stadt.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr hatte ich keine Ahnung, dass Deirdre meine Mutter war. Ein paar Kinder in der Schule sagten es mir. Sie waren nicht nett. Nun, da ich selbst schwanger bin, muss ich immer wieder an das Gelächter und an die höhnischen Bemerkungen denken. Das tat sehr weh, aber ich musste so tun, als machte es mir nichts aus.
Deirdre folgte mir manchmal, wenn ich von der Schule nach Hause ging. Ich sah sie herumschleichen. Jedes Mal schaute sie mich an, als wollte sie, dass ich mit ihr spreche, aber ich rannte immer schnell davon. Einmal rief sie mir nach, ich solle stehen bleiben, aber ich tat es nicht.
Aber im letzten Jahr, als ich noch sechzehn war, wartete ich auf sie. Sie wirkte glücklich und traurig zugleich, als sie um die Ecke bog und mich sah. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke. Ich streckte die Hand aus, sie ergriff sie, und dann gingen wir zusammen ein paar Häuserblocks entlang.
Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Ich frage mich, wohin sie ging und was mit ihr passiert ist. Ich frage mich, ob sie tot ist.
Sie hat an diesem Tag nicht viel gesagt, aber sie hielt ganz fest meine Hand und sang etwas. Es klang wie ein Wiegenlied. Darin kam unser Name, Scarborough, vor. Sie sang es mir einige Male vor, und dann durfte ich mitsingen, damit ich es nicht vergaß. Sie sagte, ich dürfe es niemals vergessen. Ihre Mutter habe es ihr schon vorgesungen, und wir Scarborough-Mädchen müssten immer versuchen, die Aufgaben in diesem Lied zu erfüllen. Ihre Aufgabe sei es, mir das Lied beizubringen.
Daran muss ich immer denken. Warum war das ihre Aufgabe?
Leo hat neulich ein ähnliches Lied gesungen, deshalb ist es mir jetzt wieder eingefallen. Als ich es hörte, fiel mir auf, dass der Text ein anderer war als der von Deirdres Lied. Leo erklärte mir, es sei ein Song von Simon and Garfunkel mit dem Titel » Scarborough Fair«, und es handle sich im Ursprung um eine » Child-Ballade«: Von dem Lied gäbe es viele verschiedene Versionen; einige davon habe ein Mann namens Francis Child vor über hundert Jahren niedergeschrieben. Als ich nachfragte, bestätigte er mir, dass es wahrscheinlich noch viele Versionen gibt, die nicht aufgeschrieben wurden. Leo nahm an, ich sei nur wegen meines Nachnamens an dem Lied interessiert, und ich sagte ihm nichts von Deirdre.
Dies ist die Version, die Deirdre mir vorsang. Sie nannte sie » Der Elfenritter«.
Gehst du zum Markt nach Scarborough?
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Grüß mir eine, die dort wohnt.
Sie soll meine wahre Liebe sein.
Sag ihr, sie wird auf Gänsedaunen ruhn.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Ich schwöre, ich werde ihr nichts zuleide tun.
Sie soll meine wahre Liebe sein.
Morgen erwarte ich Antwort von ihr.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Was sie auch sagt, sie hat keine Ruhe vor mir.
Sie soll meine wahre Liebe sein.
Ihre Antwort kam nach einer Woche und einem Tag.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Tut mir leid, mein Herr, dass ich Euch nicht mag.
Ich werde nicht Eure wahre Liebe sein.
Niemals entfliehen wird sie meinem Bann.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Wenn sie nicht drei Rätsel lösen kann,
Wird sie meine wahre Liebe sein.
Ein Zauberhemd sie mir fertigen mag.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Ohne Nadel, Saum und Naht.
Sonst wird sie meine wahre Liebe sein.
Sie soll für mich finden einen Morgen Land.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Zwischen Meeresgischt und Meeresstrand.
Sonst wird sie meine wahre Liebe sein.
Sie soll es pflügen mit einer Ziege Horn.
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Und es ganz besäen mit einem einzigen Korn.
Sonst wird sie meine wahre Liebe sein,
Und ihre Töchter sind auf ewig mein.
Und nun zu dem Abend, an dem ich schwanger wurde.
Es war ein Freitagabend im letzten Mai. Jimmy Delacroix’ Eltern waren weggefahren, und deshalb gab er bei sich zu Hause eine große Party. Kia meinte, es spiele keine Rolle, dass Jimmy uns nicht persönlich eingeladen habe, weil zu so einer Party jeder kommen könne. Sie bat mich mitzukommen. Sie hatte
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