Flucht aus dem Harem
einem Mann. Man hatte sie gelehrt, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, aber ihr gleichzeitig klar gemacht, dass das Individuum, um das es dabei ging, nicht zählte.
Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Distanz machte stark, Gefühle machten schwach. Ein klarer Standpunkt, dessen Befolgung ihr das Überleben in den letzten Jahren ermöglicht hatte. Sie sollte sich darauf besinnen. Nur weil dieser Mann so anders aussah und reagierte, durfte sie ihre Grundsätze nicht vergessen. Im Kern war er genauso wie Ahmet Pascha oder sein Bruder Karim, das hatte der von ihm geforderte Handel bewiesen.
Das Blau des Himmels schmerzte in ihren Augen. Sie schloss die Lider und verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl es ihr widerstrebte, beschloss sie, zurück in die Kabine zu gehen. Schließlich musste sie sich ihm früher oder später stellen.
Die Tür schwang auf und sie trat ein. Justin war gerade damit beschäftigt, die klemmende Verriegelung eines Bullauges zu öffnen und bemerkte sie nicht.
Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie winzig der Raum war. Klein für einen, aber viel zu klein für zwei Menschen. Hier gab es keine Privatsphäre, keine Möglichkeit zum Rückzug. Auch das Bett bot nur Platz für eine Person, zu zweit würden sie aneinandergepresst schlafen müssen.
Sie hatte noch nie eine ganze Nacht lang neben einem Mann geschlafen. Nachdem sie ihre Dienste verrichtet hatte, war sie stets in ihr Gemach zurückgekehrt – erleichtert, wieder allein und ungestört sein zu können. Das würde es hier nicht geben. Unerwartete Panik schnürte ihre Kehle zu, denn sie begriff, dass es keinen Ausweg gab. Sie war diesem Mann ausgeliefert in jeder nur vorstellbaren Art. Weder der Kapitän noch jemand von der Mannschaft würden ihr im Notfall zu Hilfe kommen. Niemanden würde es kümmern, was hinter der Kabinentür geschah und es gab keinen Platz, an den sie sich zurückziehen konnte, um Kraft zu sammeln.
Leila sank auf den wackeligen Holzhocker vor dem Tisch, auf dem die Zitronen lagen und schob sie gedankenverloren beiseite. Erst jetzt bemerkte Justin ihre Anwesenheit und kam näher. In der Hand hielt er das Messer, das er vom Smutje geholt hatte.
Er legte es neben die Zitronen. „Ich habe versucht, das Bullauge zu öffnen, aber wie es aussieht, ist der Rahmen zu verzogen.“
Leila wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Schweigen stand im Raum wie eine Mauer. Ein Klopfen an der Tür brach die Stille. Justin öffnete und bedeutete dem Mann einzutreten. Auf einem abgewetzten Holzbrett standen zwei Porzellanschüsseln und ein Krug Wasser, daneben lagen einige Stücke Fladenbrot und zwei Löffel. Der Mann stellte alles auf den Tisch zu den Zitronen und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Leila zog die Schüssel zu sich. Ihr knurrender Magen wies sie darauf hin, dass sie einen Tag lang nichts gegessen hatte. Der Inhalt der Schüssel bestand aus einem dicken Gemüseeintopf, in dem ein paar Fleischstücke schwammen. Es sah nicht besonders vertrauenerweckend aus, schmeckte erstaunlicherweise aber durchaus passabel.
Justin hatte den zweiten Stuhl an den Tisch gezogen und setzte sich neben sie. Als er sie mit dem Ellbogen anstieß, unterdrückte sie den Impuls, samt Hocker von ihm abzurücken. Diese Blöße würde sie sich nicht geben. Im Gegensatz zu ihr stocherte Justin allerdings nur lustlos in seinem Essen herum und schob die halbvolle Schüssel schließlich beiseite.
Leila, die ihre Portion hungrig hinuntergeschlungen hatte, griff ohne Umstände danach und begann, das Gemüse in sich hineinzuschaufeln. Als sie fertig war, schob sie die leere Schüssel beiseite und merkte, dass Justin sie beobachtete.
Hastig schluckte sie den letzten Bissen hinunter. „Ich habe seit gestern nichts gegessen. Sollen wir uns den Zorn des Kochs zuziehen, indem wir sein Essen zurückschicken?“ Erst als sie den Satz ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, dass sie sich verteidigte.
„Nein, natürlich nicht.“ Er lächelte wieder dieses Lächeln, das einen so unerwünschten Effekt auf sie hatte. Und damit nicht genug, stand in seinen Augen eine so offensichtliche Bewunderung, dass sie die Lider senkte.
Die Mahlzeit hatte sie gestärkt. Sie fühlte sich gut. Zeit, zum Wesentlichen zu kommen. Langsam stand sie auf und streifte den schwarzen Mantel ab, den sie die ganze Zeit hindurch anbehalten hatte. Achtlos warf sie ihn in eine Ecke. Darunter trug sie eine kurze, ärmellose Brokatweste über einem hüftlangen Hemd aus Batist und
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