Flucht aus dem Harem
Nervosität ließ seine Handflächen feucht werden, aber er brauchte nicht lange zu warten.
Ein hochgewachsener, schlanker Mann schritt die Stufen hinab. Die Silhouette und die Bewegungen waren Justin so vertraut, dass ihn der Anblick schmerzte, obwohl er wusste, dass dieser Mann nicht sein Vater sein konnte.
Er atmete tief ein und trat einen Schritt vor. Der Mann verharrte auf der untersten Stufe. Das einfallende Licht ließ sein rotgoldenes Haar aufleuchten.
Justin hielt es nicht länger aus. „Onkel Edward“, flüsterte er heiser und ging auf den Mann zu. „Onkel Edward, es tut so gut, dich zu sehen.“
Der Mann blickte ihn nur ausdruckslos an. Justin streckte seinem Gegenüber die Hand entgegen, mehr schien ihm nicht angebracht. Und Edward Grenville, Marquess of Wexford, machte auch keine Anstalten ihn – den verlorenen Neffen – an seine Brust zu ziehen.
„Du bist also zurückgekommen, Justin. Wie ist dir die Flucht gelungen?“, fragt er, während er die ihm entgegenstreckte Hand schüttelte.
„Es war keine Flucht. Der Pascha hat mich freigelassen.“
Edward hob die Brauen. „Tatsächlich? Nun, wie auch immer. Schön, dass du wieder zu Hause bist. Ich werde Leland, meinen Kammerdiener, anweisen, dich unterzubringen. Ich nehme an, du brauchst Ruhe. Unterhalten können wir uns auch noch später.“
„Danke, Onkel Edward.“
Auf ein Zeichen eilte ein Dienstmädchen herbei, und wenig später betrat ein livrierter Mann um die vierzig das Foyer. Er blieb vor Edward stehen. „Sie haben nach mir geschickt, Euer Lordschaft?“
„Bereiten Sie ein Zimmer für meinen Neffen vor, und sehen Sie zu, dass es ihm an nichts fehlt“, befahl Edward. Dann wandte er sich mit einem verbindlichen Lächeln an Justin: „Wenn du Hilfe brauchst, wobei auch immer, Leland ist dein Mann der Stunde.“
„Ich werde es mir merken“, erwiderte Justin. „Wir sehen uns beim Abendessen, nehme ich an?“
„Ja, Tante Lilian ist ausgefahren, und Colin ist bis zu den Ferien in Eton.“
Edward drehte sich um, als wäre alles gesagt, und Justin blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach. Er hatte weiß Gott nicht damit gerechnet, herzlich und voller Freude empfangen zu werden, aber die gleichgültige Kälte erstaunte ihn dennoch.
Leland räusperte sich. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten, Mr. Grenville.“
Justin schritt hinter dem Kammerdiener die Treppe hinauf. Auf dem Flur im ersten Stock hatte sich nicht viel verändert, weder die Gemälde an den Wänden noch die kleinen Tischchen mit Blumen waren verschwunden. Ein dicker Teppich schluckte jedes Geräusch.
An einer der Türen blieb Justin stehen, während Leland weiterging. „Kann ich dieses Zimmer haben?“
Der Kammerdiener kam zurück. „Bedauere, das sind die Räume von Master Colin.“
Zu erfahren, dass nun sein Cousin sein ehemaliges Zimmer bewohnte, versetzte Justin einen Schock. Nur mit Mühe bewahrte er eine unbeteiligte Miene. „Darf ich denn wenigstens einen Blick hineinwerfen?“
Leland runzelte die Stirn, öffnete dann aber doch die Tür, und Justin trat ein. Nichts in dem Raum war so, wie er es in Erinnerung hatte. Das Himmelbett stand an einem anderen Platz, die Vorhänge und der Baldachin schimmerten in dunklem Blau, statt in seiner Lieblingsfarbe Grün. Die Bücherregale hatte man bis auf eines entfernt und durch Vitrinen ersetzt, in denen verschiedene Minerale lagen. Auch der Sekretär aus hellem Nussbaumholz war neu.
Justin wandte sich ab. Im Grunde hätte er erleichtert sein sollen, denn nichts in diesem Zimmer erinnerte ihn an seine Jugend. Es war das Domizil eines Fremden.
Ohne ein Wort schloss Leland die Tür und ging weiter über den Flur. Der Raum, zu dem er Justin schließlich führte, gehörte zweifellos zu den Gästezimmern, denn er wurde von unpersönlicher Eleganz beherrscht.
„Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Mr. Grenville. Wenn Sie etwas benötigen, die Glocke ist hier.“ Er deutete auf einen Klingelzug an der Wand. „Dinner wird um 20 Uhr serviert, im Artemissalon. Ich werde mir erlauben, Sie abzuholen.“
„Das ist nicht nötig, ich kenne den Weg. Sie dürfen sich zurückziehen.“ Justins Stimme hätte Wasser in Eis verwandeln können. „Veranlassen Sie, dass meine Truhe heraufgebracht wird.“
Leland verbeugte sich wortlos und ging mit steifen Schritten zur Tür, während sich Justin auf das breite Bett fallen ließ. Seine Brust fühlte sich an, als würde sie von einem Schraubstock zusammengepresst. Er schluckte und
Weitere Kostenlose Bücher