Flucht aus dem Harem
für sie nichts Schöneres gegeben, als auf ihrem Pferd über die Weiten von Penwith zu galoppieren und den Wind in ihrem Haar zu spüren. Natürlich hatten die Mutter und das Kindermädchen sie immer wieder gescholten, weil sie sich heimlich davon stahl. Ihr Vater war selten nach Hayden Manor gekommen, meist verbrachte er nur die Sommermonate hier. Den Rest der Zeit über hatte er seine Laufbahn im diplomatischen Corps verfolgt, die schließlich darin gegipfelt hatte, dass man ihn als Botschaftsattaché nach Rom schickte. Und in Rom war die rosarote Seifenblase zerplatzt, in der Leila bis dahin gelebt hatte.
„Die Pferde sind gewechselt, wir können fahren, Mylady.“ Der Kutscher stand auf und überließ es ihr, das frische Gespann und die Getränke zu bezahlen.
Als sie die Poststation verließ, zog sie den Mantel enger um sich. Eine kühle Brise wirbelte den Staub der Straße auf, und der Himmel verdunkelte sich. Wenig später begann es zu regnen. Die dicken Tropfen klatschten wütend an die Scheiben der Kusche, und die Blitze, die die Wolken zerrissen, tauchten die Landschaft immer wieder in ein gespenstisches Licht.
Leilas Nervosität wuchs. Sie hoffte, dass der Kutscher nüchtern genug war, nicht die Herrschaft über die Pferde zu verlieren. Als das Gefährt wieder anhielt, spähte sie erleichtert aus dem Fenster.
Im Licht eines zuckenden Blitzes erkannte sie die Vorderfront von Hayden Manor. Zahlreiche Fensterscheiben fehlten, verwittert und drohend reckte sich die Fassade dem Betrachter entgegen. Nichts wies darauf hin, dass hier jemand lebte.
Beklommen starrte Leila hinaus in den Regen. In allen ihren Überlegungen war sie niemals auf die Idee gekommen, dass ihr Vater den Familiensitz verlassen haben könnte. Was sollte sie jetzt tun?
Die Dunkelheit verschluckte das Licht Blitzes, und Leila entdeckte einen rötlichen Schein hinter einem der Fenster. Also war doch jemand hier! Mit neuer Zuversicht stieß sie die Tür auf und hastete durch den Regen zu dem auf vier gewaltigen Säulen ruhenden, mit Grünspan überzogenen Vordach.
Der Klingelzug neben dem Portal reagierte schwerfällig auf ihre Bemühungen, aber schließlich wurde das Tor doch geöffnet. Im selben Moment hörte Leila, dass die Kutsche wieder anfuhr. Sie wirbelte herum und sah, wie das Gefährt die Auffahrt so eilig umrundete, dass der Wagen gefährlich schwankte, und den Weg einschlug, den es gekommen war. Der verdammte Kutscher hatte sie tatsächlich mitten im Regen stehen lassen! Allein und einem ungewissen Schicksal entgegenblickend. Zorn stieg in ihr hoch.
Sie wandte sich wieder zur Tür um. Der Mann vor ihr trug ein altmodisches fleckiges Rüschenhemd und eine abgewetzte Samtjacke. Graues Haar war nachlässig aus dem Gesicht gebürstet. Die zerknitterte Züge und der verkniffene Zug um den Mund verhinderten, dass sie ihn sofort erkannte.
„Sie wünschen?“, fragte er gereizt.
„Ich möchte zum Earl of Rosscliff“, antworte Leila und drückte das Bündel fester an sich.
„Der Earl empfängt keine Gäste“, sagte der Mann abweisend.
„Mich wird er empfangen.“
Die Miene des Mannes verfinsterte sich noch mehr. „Ach ja. Warum?“
Leila reckte das Kinn. „Ich bin seine Tochter.“
Die Augen des Mannes weiteten sich. Er öffnete den Mund, musste aber zweimal ansetzen, um die Worte herauszubringen. „Miss … Miss Katherine?“
Sie brauchte selbst einen Moment, um den Namen als ihren eigenen zu erkennen. Wie auch den Mann, der vor ihr stand. „Mr. Baynes? Sind Sie es wirklich?“, flüsterte sie überrascht.
„Ich bin es in der Tat, Miss Katherine. Welch eine Freude, Sie wiederzusehen. Niemand …“, er schwieg abrupt
„… hat damit gerechnet“, beendete sie den Satz und betrachtete ihn. Baynes war der Butler von Hayden Manor gewesen, der würdige, situierte Herrscher über die gackernde Dienerschaft. Eine Respektsperson aus ihren Kindertagen. Aber der Lauf der Zeit hatte ihn in einen griesgrämigen, verwahrlosten alten Mann verwandelt.
Ehe sie sich versah, verbeugte er sich tief. „Miss Katherine, ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie hier sind. Ich bringe Sie sofort zum Earl.“
Er wandte sich ab, aber sie hielt ihn am Ärmel fest. „Wie geht es meinem Vater? Ist er wohlauf? Wo sind die anderen Dienstboten, warum ist es hier so kalt und dunkel?“
Baynes sah sie mit traurigen Augen an. „Er kümmert sich um nichts mehr, es …“ Mit einem tiefen Seufzer schüttelte er den Kopf. „Miss Katherine, Ihr Vater
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